«Hohe Dunkelziffer bei Berufsunfällen»
06.02.2025 Baselbiet, Baselbiet, Schweiz, Natur, Gesellschaft, LandwirtschaftCornelia Stelzer untersucht Risiken in der Landwirtschaft – etwa im Umgang mit Maschinen
Landwirtschaft birgt viele Gefahren – besonders der Umgang mit Maschinen und Fahrzeugen führt immer wieder zu schweren Unfällen. Cornelia Stelzer von der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft erklärt, warum Prävention überlebenswichtig sein kann.
Melanie Frei
Frau Stelzer, der jüngste tödliche Traktorunfall in Ormalingen zeigt, dass die Arbeit mit landwirtschaftlichen Maschinen sehr gefährlich sein kann. Wie risikoreich ist der Beruf Landwirt?
Cornelia Stelzer: In der Landwirtschaft gibt es viele verschiedene Arbeitsbereiche. Man arbeitet mit Maschinen, mit Tieren oder an Gebäuden. Man hat keinen festen Arbeitsplatz und ist viel auf dem Feld und auf der Strasse unterwegs. Auch das Wetter kann zum Beispiel die Bodenbeschaffenheit und damit die Sicherheit beeinflussen. Ich sage es so: Die Landwirtschaft hat viel mit besonderen Gefahren zu tun.
Was sind die häufigsten Unfallarten in der Landwirtschaft?
Die meisten tödlichen Unfälle beobachten wir im Zusammenhang mit Motorfahrzeugen und Maschinen.
Wie viele Personen werden in der Schweiz bei Unfällen mit Landmaschinen verletzt oder gar getötet?
In den vergangenen 10 Jahren sind uns schweizweit 119 Todesfälle im Zusammenhang mit Motorfahrzeugen bekannt. Dabei handelt es sich um Fahrzeugstürze, Kollisionen oder Überfahren durch das eigene Motorfahrzeug. Im Zusammenhang mit Maschinen sind uns 36 Fälle bekannt. Über die Anzahl der Unfälle ohne Todesfolge können wir keine Aussage machen. Wir haben zwar Kenntnis von einzelnen Ereignissen, gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus, da die Unfälle nicht gemeldet werden.
Wie dokumentieren Sie diese Unfälle?
In der Landwirtschaft gibt es keine generelle Meldepflicht für Unfälle. Landwirte in Familienbetrieben sind privat unfallversichert und diese Zahlen werden nicht erfasst. Nur Betriebe mit familienfremden Arbeitskräften unterstehen dem Unfallversicherungsgesetz und müssen ihre Mitarbeitenden versichern. Die Unfallzahlen dieser Betriebe werden durch die Statistik der Schweizerischen Unfallversicherer hochgerechnet. Gemäss der Strukturerhebung des Bundesamts für Statistik gab es im Jahr 2023 47 719 Landwirtschaftsbetriebe mit 148 880 Beschäftigten, davon 13 198 Betriebe mit insgesamt 38 080 familienfremden Arbeitskräften.
Wo kommt es in der Landwirtschaft sonst zu Unfällen?
Weitere häufige Ursachen für tödliche Unfälle sind Stürze aus der Höhe durch ungesicherte Bodenöffnungen oder von Dächern, Unfälle bei der Waldarbeit, mit Tieren oder durch Gärgase aus Silos, Güllelagern oder Gärkellern.
Was ist die Aufgabe der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) und der Stiftung «AgriSicherheit Schweiz» (Agriss)?
Die BUL ist eine Stiftung des Schweizerischen Bauernverbands zur Förderung der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes in der Landwirtschaft. Agriss führt im Rahmen verschiedener Mandate Kontroll- und Überwachungstätigkeiten durch. Im Unfallbereich sammeln wir Unfallmeldungen, werten diese für die Prävention aus und klären Unfälle vor Ort ab. Die Unfallmeldungen stammen aus verschiedenen Quellen wie Medienmitteilungen, Polizeirapporten, Zeitungsartikeln und Direktmeldungen von Betroffenen. Die gesammelten Daten umfassen sowohl tödliche Unfälle als auch Verletzungen und Sachschäden. Es wird davon ausgegangen, dass ein Grossteil der tödlichen und schweren Unfälle bekannt ist, da über diese fast immer in den Medien berichtet wird. Leichtere Unfälle, wie ein Sturz auf dem Hof mit einem gebrochenen Knöchel, tauchen dagegen selten in den Medien auf. Auch wenn wir keine vollständigen Zahlen haben, können wir aus unseren Erhebungen erkennen, wie häufig sich Unfälle ereignen, wo sie sich ereignen und welche besonderen Risiken bestehen.
Gibt es landwirtschaftliche Maschinen, die gemessen an den Unfallzahlen besonders gefährlich sind? Oder Arbeiten, bei denen das Risiko regelmässig unterschätzt wird?
Betrachtet man die tödlichen Unfälle in der Landwirtschaft, so zeigen die Zahlen, dass kippende oder umstürzende Fahrzeuge häufig zu tödlichen Unfällen führen. In diesen Fällen ist die Person häufig nicht angeschnallt. Eine weitere gefährliche Tätigkeit ist das An- und Abkuppeln von Maschinen. Oft muss die Person zwischen Traktor und Maschine stehen, um sicher zu gehen, dass alles richtig angekuppelt ist. Ist die Maschine nicht richtig gesichert und kippt um, kann die Person eingeklemmt werden. Auch das Hineingreifen in laufende oder nachlaufende Maschinen stellt ein grosses Risiko dar.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Etwa eine Ballenpresse, die verstopfen kann. Häufig wird dann das Futter von Hand ausgerissen und beim plötzlichen Wiederanlaufen der Maschine werden die Hände oder Arme eingezogen. Oder es kommt zu Unfällen, bei denen Personen in die Mischwalzen von Futtermischwagen geraten oder sich an Holzspaltmaschinen die Hände verletzen. Oft wird das Risiko unterschätzt, vor allem von Personen, die selbst noch keinen Unfall hatten.
Im Juragebiet des Baselbiets ist das Gelände häufig steil und unwegsam. Gibt es hier besonders viele Unfälle?
Das kann ich so nicht sagen. Grundsätzlich ist steiles Gelände aber immer ein zusätzlicher Risikofaktor.
Werden Sie sich den Unfall von Ormalingen speziell anschauen?
In gewissen Fällen kann es vorkommen, dass die Agriss von der Staatsanwaltschaft zur Beurteilung einer Unfallsituation beigezogen wird. Im Fall Ormalingen wurde die Agriss beigezogen. Das Verfahren läuft.
Im vorliegenden Fall führten Waldarbeiten mit einer Seilwinde zum Unfall. Kommen vergleichbare Unfälle häufiger vor?
Immer wieder kommt es zu Unfällen mit Seilwinden. Diese Maschinen werden häufig in steilem und schwer zugänglichem Gelände eingesetzt. Hier ist schon das Gelände selbst ein Risikofaktor, der Boden kann feucht und rutschig sein. Aber auch viele andere Faktoren spielen eine Rolle – zum Beispiel, ob die arbeitende Person genau weiss, wie das Gerät zu bedienen ist. Häufig kommen bei Unfällen mehrere Faktoren zusammen, die verkettet zum Unfall führen.
Ist die Situation bei neuen Traktoren oder Maschinen besser?
Moderne Maschinen wie neue Traktoren sind in der Regel sicherer als ältere Modelle, da sie mit verbesserten Sicherheitsfunktionen ausgestattet sind. Seit 2018 müssen beispielsweise alle neuen Traktoren mit Sicherheitsgurten ausgestattet sein. Die technische Entwicklung trägt zur Sicherheit bei, kann aber nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn die Maschinen richtig bedient werden.
Genügen die bestehenden Sicherheitsvorschriften für das Arbeiten mit Maschinen oder müsste es mehr geben?
Ob strengere Vorschriften allein wirklich mehr bringen würden, ist fraglich – Vorschriften müssen auch umgesetzt und kontrolliert werden. Das Risikobewusstsein ist nicht bei allen gleich ausgeprägt. Letztlich liegt es immer in der Verantwortung des Einzelnen, sich selbst zu schützen, indem er die Sicherheitsvorschriften der Maschine und des Herstellers beachtet.
Der Verstorbene in Ormalingen war laut Polizeimeldung 73 Jahre alt. Sind ältere Landwirte häufiger durch Unfälle betroffen als junge?
Viele Landwirte arbeiten über das Rentenalter hinaus im Familienbetrieb. Bestimmte Risikofaktoren verstärken sich. So nehmen Wahrnehmung, Reaktionsvermögen oder Beweglichkeit ab. Es kann jedoch nicht pauschal gesagt werden, dass ältere Landwirte häufiger verunfallen als jüngere.
Immer wieder ist zu hören und zu lesen, dass auch der Försterberuf besonders gefährlich ist. Förster und Landwirte – ist das Risiko vergleichbar? Sind das die risikoreichsten Berufe?
Die Statistik der Schweizerischen Unfallversicherer, auf die ich mich beziehe, erfasst die Berufsunfälle in Betrieben mit familienfremden Arbeitskräften, nicht aber in Familienbetrieben. Diese Statistik zeigt, dass die Forstwirtschaft mit 222 Unfällen pro 1000 Beschäftigte an der Spitze liegt, gefolgt vom Gartenbau mit 177, dem Baugewerbe mit 150 und der Landwirtschaft mit 113. Betriebe mit familienfremden Mitarbeitenden sind verpflichtet, Präventionsmassnahmen umzusetzen und über ein Sicherheitskonzept zu verfügen. Wir vermuten, dass diese Betriebe mehr Sicherheitsmassnahmen umsetzen, weil sie gesetzlich dazu verpflichtet sind, als Familienbetriebe. Diese kommen möglicherweise weniger mit der Unfallprävention in Berührung. Wir vermuten, dass die tatsächliche Zahl der Berufsunfälle in der Landwirtschaft etwas höher ist als die in der Statistik ausgewiesenen 113.
Präventionskampagne «Risiko runter»
mef. Cornelia Stelzer (41) ist Mitglied des Kampagnenteams der Präventionskampagne «Risiko runter», die am 14. Februar offiziell startet. Die Kampagne wird von der Stiftung AgriSicherheit Schweiz und der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft durchgeführt und vom Schweizerischen Bauernverband unterstützt. Ziel der Kampagne ist es, die in der Landwirtschaft tätigen Personen für das Erkennen und Vermeiden von alltäglichen Gefahren zu sensibilisieren und damit die Zahl der Arbeitsunfälle zu reduzieren. Derzeit läuft eine Umfrage, die bis Mitte Februar von den Landwirten ausgefüllt werden kann. Die Umfrage dient der Selbsteinschätzung in Bezug auf Risikosituationen und fragt, ob die Landwirte selbst schon Erfahrungen mit Unfällen gemacht haben. 230 Fragebögen wurden bereits vollständig ausgefüllt, die Auswertung steht noch aus.