«Die Staus sind ein Riesenproblem» – «Wir ernten mehr Verkehr»
07.11.2024 Region, SchweizDas Verkehrsaufkommen auf den Schweizer Autobahnen hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt. Die Folge: so viele Staustunden wie noch nie. Autobahnausbauten scheinen die logische Lösung – doch das sehen längst nicht alle so. Ein Ausblick auf die Abstimmung vom 24. November.
Paul Aenishänslin, Janis Erne, Tobias Gfeller und Peter C. Müller
Thomas Noack kennt die Problematik nur zu gut. Er ist regelmässig auf der A1 zwischen dem Berner Oberland und seinem Wohnort Bubendorf unterwegs. «Ja, der Stau zwischen Härkingen und Bern ärgert mich», sagt der SP-Landrat. Trotzdem wird er am 24. November Nein stimmen zum geplanten Autobahnausbau.
Weshalb? Noack nennt das Argument, das die «Volksstimme» von allen Kritikern zu hören bekommt: Der Autobahnausbau schaffe nur kurzfristig Abhilfe, langfristig verschlimmere er die Situation sogar. «Wer mehr Strassen baut, erntet mehr Verkehr», sagt etwa die Grünen-Nationalrätin Florence Brenzikofer. Und der Geschäftsführer des VCS beider Basel, Florian Schreier, meint: «Die Schweiz läuft Gefahr, im Teufelskreis des ewigen Autobahnausbaus gefangen zu bleiben.»
Mehr Strassen gleich mehr Verkehr – Noack, von Beruf Raumplaner, verleiht dem Argument Tiefe. Er verweist auf den Schönthaltunnel zwischen Liestal und Pratteln, der das Oberbaselbiet via A22 mit der A3 bei Augst verbindet. «Am Anfang wurde die Rheinstrasse entlastet, aber das Wegfallen des Staus hat mehr Einwohner angezogen, und heute sind wir wieder da, wo wir vor zehn Jahren waren.» In den Stosszeiten stehe man zwischen Liestal und Pratteln wieder im Stau, bilanziert Noack.
Transportunternehmer mahnt
Bringt der Strassenbau mittelfristig also gar nichts? Beim Bund sieht man das dezidiert anders: Um den Verkehrsfluss und die Sicherheit auf den Autobahnen zu verbessern, sollen diese ausgebaut werden. Die Vorlage, über die in knapp drei Wochen abgestimmt wird, umfasst mehrere Projekte, darunter einerseits Spurerweiterungen auf der A1 zwischen Kirchberg (BE) und Bern sowie zwischen Nyon (VD) und Le Vengeron (GE) und andererseits Tunnel in Basel, St. Gallen und Schaffhausen (siehe Visualisierung). Alle vier Jahre unterbreitet der Bundesrat dem Parlament solche Ausbauschritte.
«Eine echte Alternative gibt es nicht», sagt SVP-Nationalrätin Sandra Sollberger. Die Ideen der Ausbau-Gegner – bessere Verkehrslenkung, flexible Arbeitszeiten oder höhere Besteuerung des Autofahrens – überzeugen sie nicht. Sollberger, Mitglied der nationalrätlichen Verkehrskommission, sagt, der Ausbau der Nationalstrassen sei auf den Bahnausbau abgestimmt. Beides gehe Hand in Hand. «Es ist eine Illusion zu glauben, dass man die Verkehrsüberlastung nur mit dem Bahnausbau in den Griff bekommt.» Denn es lebten immer mehr Menschen in der Schweiz, und diese nutzten die Strassen.
Ohne den Ausbau der Nationalstrassen werde sich die Situation weiter verschärfen, ist Sollberger überzeugt. Der Ausweichverkehr gefährdet laut der Liestalerin nicht nur die Sicherheit auf den Gemeindestrassen und die Attraktivität des Busverkehrs, auch die Wirtschaft leide. Sollberger, die mit ihrem Mann in Bubendorf einen Malerbetrieb führt, sagt: «Unsere Mitarbeiter stehen täglich im Stau und in dieser Zeit findet keine Wertschöpfung statt. Die Staustunden in der Schweiz sind ein Riesenproblem für unsere Volkswirtschaft.»
Dieser Meinung ist auch Fabian Felix. Der 33-Jährige ist Geschäftsführer der Felix Transport AG aus Arlesheim. 130 Mitarbeiter und rund 70 Lastwagen gehören zum Familienunternehmen. «Unsere Chauffeure stehen je nach Route und Tag mehrere Stunden im Stau», sagt Felix. Er spricht von gravierenden Effizienzverlusten und mangelnder Planbarkeit. Für bestimmte Sendungen müssten seine Disponenten grosse Zeitpuffer einplanen. Ein Stauzuschlag sei in der Branche schon länger üblich und müsse den Kunden verrechnet werden, um den Effizienzverlust einigermassen ausgleichen zu können.
Der Zeitverlust verteuert also nicht nur die Waren für die Endkunden im Supermarkt oder beim Onlineshopping.Auch der Beruf werde unattraktiver, so Felix: «Die Chauffeure haben verständlicherweise keine Lust, ständig im Stau zu stehen.» Felix Transport ist in der ganzen Schweiz unterwegs, deshalb ist für den Geschäftsführer der gesamte Autobahnausbau von grösster Wichtigkeit – und nicht nur der Rheintunnel in unmittelbarer Nähe.
«Denn der Gütertransport ist auf die Strasse angewiesen», so Felix. Nicht alle Güter könnten per Bahn transportiert werden, insbesondere auf den «letzten Kilometern» nicht. Damit das Zusammenspiel mit der Bahn funktioniere, müsse neben der Bahn- auch in die Strasseninfrastruktur investiert werden.
Bundesrat weibelt in Basel
Die jüngste Umfrage prognostiziert ein knappes Abstimmungsresultat. Sie wurde vom Forschungsinstitut GFS Bern im Auftrag von SRF durchgeführt. 51 Prozent der Befragten sagen Ja zum geplanten Autobahnausbau, 45 Prozent lehnen ihn ab. 4 Prozent sind unentschlossen. Das Abstimmungsverhalten vieler Menschen in der Region Basel dürfte von ihrer Haltung zum Rheintunnel abhängen.
Der Rheintunnel ist das teuerste der sechs Teilprojekte. Er soll 2,6 Milliarden Franken kosten und von 2030 bis 2040 gebaut werden. Genau genommen ist der Rheintunnel keine einzelne Röhre, sondern ein Tunnelsystem. Dieses soll die Osttangente zwischen den Verzweigungen Hagnau (Muttenz) und Wiese (Basel) entlasten. Wer nach Deutschland, Frankreich oder ins Basler Klybeck-Quartier will, soll künftig bei Birsfelden in den Tunnel einfahren.
Die Regierungen von Basel-Stadt und Baselland befürworten den Bau des Rheintunnels – so auch der Bundesrat und Verkehrsminister Albert Rösti (SVP). Dieser besuchte am 28. Oktober die Region. Auf Einladung der Handelskammer beider Basel hielt Rösti am Freien Gymnasium in Basel ein flammendes Plädoyer für den Rheintunnel.
«Wir müssen investieren»
In unmittelbarer Nachbarschaft zum Freien Gymnasium, einer Privatschule im Lehenmattquartier, verläuft die heutige Osttangente inmitten durch Wohn- und Wirtschaftsgebiet. «Neben den Anwohnenden spüren auch die Schülerinnen und Schüler den zunehmenden Verkehr», sagt Rektor Jürgen Mischke. Deshalb fasste die Privatschule die Ja-Parole für die Abstimmung am 24. November und stellte ihre Räumlichkeiten für den Informationsanlass zur Verfügung.
Nach der Begrüssung durch Handelskammerpräsidentin und «Mitte»- Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter betrat Albert Rösti die Bühne. Er richtete sich gleich an die anwesenden Schülerinnen und Schüler im Saal: «Es ist ein Entscheid für euch junge Frauen und Männer, welche die Berufslaufbahn noch vor sich haben. Ihr werdet den Rheintunnel nutzen können. Das ist meine Überzeugung und Motivation, als Verkehrsminister zu arbeiten.»
Rösti berichtete über bereits beschlossene Massnahmen für Fussgängerinnen, Velofahrer und den öffentlichen Verkehr. «Wir investieren massiv mehr in den öffentlichen Verkehr als in den Privatverkehr», sagte er. Ziel sei es, drei Prozent des Gesamtverkehrs zusätzlich auf die Bahn zu bringen. Das Nationalstrassennetz gehöre genauso zu einem funktionierenden Verkehrssystem dazu. Röstis Appell war unmissverständlich: «Es braucht das ganze System. Es ergibt keinen Sinn, das eine gegen das andere auszuspielen.»
Der Verkehrsminister rechnete vor, dass in der Schweiz der Güterverkehr zu 70 Prozent und der Individualverkehr zu 45 Prozent auf Autobahnen verlaufen, obwohl die Nationalstrassen nur einen kleinen Teil des gesamten Strassennetzes ausmachen. Autobahnen seien die Arterien der Schweiz. «Wenn diese verstopft sind, haben wir eine Rückverlagerung in die Dörfer und Quartiere der Stadt», mahnte Rösti und erhielt dafür Zustimmung vom Präsidenten des Quartiervereins Lehenmatt.
Den Verkehr aus den Quartieren und Dörfern zu holen, ist für Rösti das wichtigste Argument für den Rheintunnel. «Wir wollen nicht mehr Verkehr, wir wollen, dass der Verkehr am richtigen Ort ist.» Das Bevölkerungswachstum mache den Ausbau nötig. Dann richtete sich der Bundesrat wieder an die Schülerinnen und Schüler: «Wenn ihr im heutigen Wohlstand weiterleben wollt, müssen wir investieren.» Es sei kein überdimensioniertes Projekt. «Der Rheintunnel ist eine Chance für die Region», sagte Rösti zum Ende seines flammenden Plädoyers.
Während seiner Ansprache hielt eine Frau im Publikum ein Transparent mit den Worten «Fake News» hoch. Auf Nachfrage des Bundesrats, was sie damit meine, antwortete sie, dass man nicht von einer CO2-Senkung sprechen könne, wenn man mehr Strassen bauen will. Rösti entgegnete, dass das meiste CO2 in Staus ausgestossen werde, wenn Autos und Lastwagen permanent anfahren und bremsen müssen. Mit den geplanten Kapazitätserweiterungen mit sechs Einzelprojekten wolle man für flüssigeren Verkehr sorgen.
Birsfelder sind skeptisch
Florian Schreier (SP) interpretiert die Sachlage diametral anders als Rösti. Er ist Geschäftsführer des VCS beider Basel, kommt aus Birsfelden und zählt zu den grössten Kritikern des Rheintunnels. Er sagt: «Der Tunnel ist eine Fehlplanung.» Das Projekt sei ausgerichtet auf den Transitverkehr, der aber nur rund 20 Prozent des Gesamtverkehrs ausmache. Wer nach Basel wolle, dem bringe der Tunnel nichts, so Schreier.
Als weiteren gravierenden Mangel ortet er die fehlende Anbindung der Rheinhäfen in Basel und Birsfelden. «Der Schwerverkehr von dort fährt weiterhin über die Osttangente oder gleich durch die Quartiere», sagt Schreier. Hinzu komme, dass der zehn Jahre dauernde Bau des Rheintunnels viel Schwerverkehr erzeugt. «Allein der Abtransport des Ausbruchmaterials von der Tunnelbaustelle in Birsfelden verursacht mehr als 120 000 zusätzliche Lastwagenfahrten.»
Doch wie stehen andere Birsfelderinnen und Birsfelder zum Rheintunnel? Die «Volksstimme» hat eine kleine, bei Weitem nicht repräsentative Strassenumfrage durchgeführt. Das Resultat: Die Befragten sind vorwiegend skeptisch. Passantin Margrit Roniger sagt: «Ich werde Nein stimmen.» Die vielen Autos verstopften bereits heute alle Strassen, so die 82-Jährige. Azad Salih (33) stimmt ihr zu: «Wenn ich an die Zukunft mit immer mehr Verkehr auf den Strassen denke, wird dieser massive Ausund Neubau der Autobahn sicher zu einem riesigen Verkehrschaos führen.» Schon heute sei auf der Hauptstrasse in Birsfelden zu Stosszeiten kaum ein Durchkommen, sagt der Kurierfahrer.
Iréne Blatter (77) glaubt nicht, dass der Verkehr in Birsfelden durch den Rheintunnel abnehmen wird. Ihr tun vor allem die vom Tunnelbau Betroffenen leid, zum Beispiel die Menschen mit Familiengärten. Diesen Punkt nennt auch die ehemalige Land- und Gemeinderätin Regula Meschberger (SP, 72), welche die «Volksstimme» zufällig auf der Strasse getroffen hat. Insgesamt sollen in Birsfelden, Muttenz und Basel rund 150 Familiengärten ersatzlos dem Tunnelbau weichen.
Uneinigkeit bezüglich Kosten
Von Birsfelden nochmals zurück auf die nationale Bühne: Nicht nur Familiengärten, auch Kulturland würde dem Autobahnausbau zum Opfer fallen. Das Bundesamt für Strassen rechnet damit, dass rund 53 Hektaren Land dauerhaft überbaut werden, davon rund 8 Hektaren Fruchtfolgeflächen, also besonders wertvolles Ackerland. Im Abstimmungskampf spielt dieser Aspekt aber nur eine untergeordnete Rolle, auch der Schweizer Bauernverband hat die Ja-Parole beschlossen. Viel mehr zu reden gibt die Kostenfrage.
Während die Gegner das Geld lieber für Bildung, Kinderbetreuung oder Gesundheit ausgeben würden, weisen die Befürworter darauf hin, dass dies nicht möglich ist, da die Mittel für den Autobahnausbau zweckgebunden sind. Sandra Sollberger: «Die Strassen finanzieren sich selbst – im Gegensatz zu den Schienen.» Tatsächlich werden die Ausbauprojekte über den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds finanziert. Und dieser wird aus Abgaben wie der Autobahnvignette, der Automobilsteuer oder dem Mineralölsteuerzuschlag gespeist, also von den Automobilisten und Lastwagenfahrern. Die Kosten für die sechs Projekte belaufen sich insgesamt auf 4,9 Milliarden Franken.
Für Florence Brenzikofer – eine Zeit lang Mitglied der nationalrätlichen Verkehrskommission – ist diese Zahl längst nicht die ganze Wahrheit. Die Grünen-Politikerin aus Oltingen erläutert: «Schon heute verursachen die Blechlawinen externe Folgekosten von 18 Milliarden Franken. Mit dem Bau der sechs Megaprojekte würden diese Kosten noch weiter steigen.» Folgekosten der Mobilität sind zum Beispiel die Belastung der Umwelt und der Gesundheit der Menschen. So könnten Ernten wegen der Klimaerwärmung ausfallen oder mehr Menschen wegen der Luftverschmutzung an Lungenkrankheiten leiden.
Welche Argumente die Bevölkerung mehr überzeugen werden, wird sich in knapp drei Wochen zeigen.
Baselbieter GLP weicht ab
je. National unterstützen SVP, FDP und «Mitte» die Ausbauprojekte. SP, Grüne, EVP und GLP sind dagegen. Die Baselbieter Kantonalparteien folgen den Parolen ihrer Mutterparteien – mit Ausnahme der GLP. Die GLP Baselland hat an ihrer Mitgliederversammlung die Ja-Parole beschlossen. Nach intensiver Diskussion sprach sich laut einer Medienmitteilung eine Mehrheit für den Autobahnausbau aus. Die Befürworter innerhalb der GLP betonten die Bedeutung des Rheintunnels für die regionale Wirtschaft, die auf eine störungsfreie Verkehrsanbindung angewiesen sei. Zudem würden die umliegenden Quartiere vom Lärm entlastet. Die Gegner äusserten ökologische Bedenken und wiesen auf die Folgekosten hin. Das Stauproblem werde zudem nur aufgeschoben.