Als Reigoldswil noch Eisenbahnfieber hatte
24.10.2024 BaselbietAm Samstag jährt sich der Spatenstich des Wasserfallen-Eisenbahntunnels zum 150. Mal. Was mit Hochkonjunktur und Vorfreude 1874 begann, endete nicht einmal ein Jahr später in Schutt und Asche. Man munkelt, dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Yanis Gaignat
«Die SBB begrüsst Sie im IC 6 nach Liestal, Reigoldswil, Mümliswil, Balsthal, Bern und wünscht Ihnen eine angenehme Reise.» Was sich heute undenkbar oder zumindest merkwürdig anhört, wäre 1879 nach geplanter viereinhalbjähriger Bauzeit Realität geworden. Eine Eisenbahn durchs Fünflibertal mit Nordportal in Reigoldswil und einem 4200 Meter langen Tunnel, der in Mümliswil (SO) die Wasserfallen durchsticht. Seit die Eisenbahn Einzug hielt, waren Bahnunternehmen daran interessiert, so schnelle Verbindungen wie möglich zu schaffen. Dabei wollten sie die Städte Basel, Bern und Zürich bestmöglich verbinden.
Es kristallisierten sich zwei Optionen heraus: direkte Verbindungen zwischen den Städten mit zwei Juradurchstichen, das sogenannte Dreieck, oder nur ein Juradurchstich mit einem Knotenpunkt, auch «Y-Variante» genannt. Damals war die Schweiz ein Flickenteppich aus verschiedenen Eisenbahngesellschaften. Eine davon war die Schweizerische Centralbahn (SCB). Für die Strecke zwischen Basel und Bern kam die Idee auf, den Zug durch das Fünflibertal zu leiten. Doch die SCB hatte kein Interesse daran, ihren Knotenpunkt Olten aufzugeben. So wurde Historikern zufolge wohl vieles bewusst unsauber aufgegleist, damit es schliesslich nie zu einer Wasserfallenbahn kommen konnte. 1850 wurden englische Bahningenieure vom Bundesrat beauftragt, für die Schweiz ein Bahnliniennetz zu entwerfen. Dabei wurde das «Dreieck» in die Planung aufgenommen, für das ein Tunnel durch die Wasserfallen nötig geworden wäre. Das aber fand kein Gefallen bei Städten wie Olten, die in diesem Dreieck liegen. Durch einen Übergang über die Aare war Olten seit jeher ein Handelsknotenpunkt.
Damit Olten diesen Status behielt, baute die in Basel ansässige Centralbahn 1858 die Bahnstrecke, die wir heute als «Läufelfingerli» kennen. Das Projekt Wasserfallenbahn schien von Tisch. Doch als im Jahr 1873 das neue Eisenbahngesetz mit der Vorgabe eingeführt wurde, dass der Güterverkehr immer auf schnellstmöglichem Weg transportiert werden muss, nahm die SCB die Idee wieder aus der Schublade. Fast zeitgleich beantragten ein Komitee aus den Dörfern Reigoldswil und Mümliswil (SO) sowie die Centralbahn ein Konzessionsgesuch.
Doch Historiker und auch einige geschichtsinteressierte Reigoldswiler nehmen heute an, dass die SCB gar nie an einem Wasserfallen-Durchstich interessiert gewesen war. Hätte sie dadurch doch ihr Monopol am Hauenstein verloren. Die SCB besetzte das Wasserfallentunnel-Projekt mit der billigsten Baufirma, die sie finden konnte: der Berliner Schneider, Münch & Jerschke AG, die noch nie einen Tunnel gebaut hatte und der die Banken keinen grossen Kredit gewährten. Ob die Herren der SCB dabei tatsächlich fahrlässig gehandelt haben, ist heute nicht abschliessend zu beantworten.
Dann brach das Eisenbahnfieber im Fünflibertal aus. Innert kürzester Zeit wurden Kredite für Arbeiterwohnungen aufgenommen. Gastarbeiter aus dem Ausland kamen nach Reigoldswil. Die Wirtschaft im kleinen Dorf florierte. Am 26. Oktober 1874 begannen die Bauarbeiten für den Tunnel. Doch die Freude hielt nicht lange an. Bereits im Februar 1875 fingen die Arbeiter an zu streiken. Sie bekamen zu wenig Lohn.
Das Unfallrisiko auf solch einer Baustelle war hoch, und eine Unfallversicherung gab es noch nicht. Die Wasserschäden waren enorm. Dabei wurde der Hauptschacht mehrfach überflutet. Und weil die Baufirma so schlecht vorbereitet war, gab es keine Pumpe zum Entwässern der Schächte. Es gibt Berichte von unsorgfältigen Sprengungen mit Verletzten und von «gewaltbereiten Italienern». Die Arbeiten wurden immer später bezahlt, und so wurde die Lage immer prekärer.
Die Bahn ist ins «Wasser gefallen»
Nach elf Monaten desaströsem Chaos meldete die Firma Schneider, Münch & Jerschke AG Konkurs an. So berichtet das «Solothurner Tagblatt» am 27. September 1875: «Heute Morgen haben sämtliche Arbeiter die Arbeit eingestellt und die Maschine, mit welcher gearbeitet wurde, unbrauchbar gemacht. Das Direktorium der Centralbahn aber hat den erfreulichen Beschluss gefasst, die rückständigen Löhne bis 25. September auszubezahlen, womit Konflikt und Gefahr dermalen beseitigt sind.» Die Türen des Direktoriums wurden geschlossen, die Bauherren verliessen das Tal.
Zurück blieben kaputte Wiesen, abgehackte Obstbäume, leere Gastwohnungen und Portemonnaies. Nach juristischen Verfahren bekamen die Reigoldswiler Recht und mussten von der Centralbahn entschädigt werden. Diese wurde gleichzeitig von der Pflicht befreit, den Tunnel zu bauen. Sie behielt aber die Konzession bis zum Bau des Hauenstein-Basistunnels im Jahr 1916. Böse Zungen munkeln, dass man diese absichtlich behalten habe, damit es nie zu einem Wasserfallentunnel kommen konnte.
Somit war das Ende der Wasserfallenbahn, die durchs ganze Fünflibertal geführt hätte, besiegelt – aus der Traum vom Weltanschluss. Die angegrabenen Schächte wurden zugeschüttet, auch aus Sicherheitsgründen. Wie genau sie zugeschüttet wurden, ist von Reigoldswiler Seite nicht bekannt. Aus dem Volksmund ist überliefert, dass der vordere Schacht (N°1, Portalschacht) zuerst für Kadaverentsorgung gebraucht wurde, später als Schuttdeponie und zuletzt als Abfallgrube. Der höher gelegene Schacht (N°3, Hauptschacht), der deutlich länger war, dürfte zugeschüttet worden sein.
Dörfer sähen anders aus
Der Ziefner Historiker und Wasserfallentunnel-Kenner Rémy Suter nimmt an, dass Reigoldswil heute anders aussähe, wenn man sich vorstellt, dass oberhalb des Dorfes Gleise verlaufen würden. Sonst aber wäre die Ortschaft einigermassen gleich geblieben. Die Industrialisierung hätte früher stattfinden können und Reigoldswil wäre heute vielleicht so gross wie Sissach oder Gelterkinden. Das Bahntrassee, also die Gleisführung, wäre so geplant gewesen, dass viele heutige Quartiere in den Gemeinden des Fünflibertals nicht existierten. «Dementsprechend gäben die Dörfer ein total anderes Bild ab», so Suter.
Ein Wasserfallen-Basistunnel wäre höchstwahrscheinlich auch bald zur Frage gestanden. Dieser wäre vielleicht schon früher im Tal in den Berg hinein gegangen. Suter, der sich eingehend mit dem Wasserfallenprojekt beschäftigt hat, ist daran, mit ein paar Mitstreitern den ehemaligen Bauplatz mit Metalldetektoren nach Überresten abzusuchen. Er selber war schon in der Tunnelhöhle, man brauche aber Gummistiefel und wasserdichte Hosen.
Übrig geblieben vom Tunnelprojekt sind ein Loch hinter der heutigen Gondelbahn, ein paar Gebäude und Schächte, Infotafeln und unzählige nostalgische Geschichten.
Auch die zweite Chance wurde verpasst
yag. «Um 1900 (genau 1899) kam die Bahn zum zweiten Male zur Sprache und musste unter souveräner Verachtung öffentlicher Interessen gegen den Hauenstein-Basistunnel den Kürzeren ziehen. Wenn man bedenkt, dass die Eisenbahngewaltigen jener Zeit zum Teil aus privaten Interessen und ärgerlicher Zwängerei lieber den Hauenstein zum zweiten Male durchtunneln liessen und dabei nur ein einziges Dörfchen (nämlich Tecknau) erschlossen, während zwei volksreiche Talschaften nördlich und südlich der Wasserfalle ohne Eisenbahnanschluss blieben, so kann das leidige Vorkommnis nicht anders als ein untilgbarer Schandfleck in der eidgenössischen Eisenbahnpolitik taxiert werden. Auf der hoch industrialisierten Südseite der Wasserfalle wurde dann von privater Seite die Stumpenbahn Basthal– Oensingen gebaut, während man sich auf der Nordseite auf Initiative von Bürgern von Reigoldswil unter Mithilfe einiger Gemeinden und des Kantons, mit der Gründung der Autobuslinie Liestal–Reigoldswil behalf. (…) Ohne die Autobus AG wären wir, was den Verkehr betrifft, in unserer Talschaft geradezu übel dran.» Das schrieb der ehemalige Reigoldswiler Gemeindepräsident (1926 bis 1941) und Bahnbefürworter Leo Zehntner (1864 bis 1961), der als Kind das Eisenbahnfieber miterlebt hat. Die Meinung, dass das Wasserfallenprojekt eine verpasste Chance für das Tal gewesen sei, teilen viele mit ihm.