Gute alte neue Zeit

Ich lese meiner ältesten Tochter gerade «Unsere kleine Farm» von Laura Ingalls Wilder vor. Meine Eltern haben die sieben Bände zu meiner Geburt erhalten und ich habe die Geschichte als Kind geliebt. Sie beginnt in den 1870ern, als Laura fünf Jahre alt ist und mit ihren Eltern und Schwestern in einer Blockhütte im Wald in Wisconsin lebt. Später zieht die Familie immer wieder um und erlebt zahlreiche Schicksalsschläge, aber auch viele glückliche Momente. Sie leben in einer Zeit des Aufbruchs, des gesellschaftlichen und technologischen Wandels. Gleichzeitig ist das Leben der Familie Ingalls weitgehend geprägt von einem Alltag, der ihr Überleben sichert. In grossem Detail wird beschrieben, wie sie ihre Vorräte für den Winter anlegen, Getreide ernten, Käse herstellen, Fleisch räuchern, Honig in einem hohlen Baum finden, Pasteten kochen, Ahornsirup gewinnen, Kleider nähen, Strohhüte flechten, Tischlerarbeiten verrichten und Bären jagen. An den langen Winterabenden spielt Pa den Mädchen auf der Geige vor und erzählt Geschichten, während das Feuer im Kamin sein warmes Licht verbreitet. Trotz aller Einfachheit, harter Arbeit und Entbehrungen ist es ein reiches, vielseitiges Leben.

Diese Kolumne schreibe ich am Laptop in einem Zimmer mit elektrischem Licht und einer Zentralheizung. Die meisten Zutaten fürs Abendessen stammen aus einem Laden und wurden auf dem Elektroherd gekocht. Ab und zu kommt eine Nachricht auf meinem Handy an. Draussen fahren immer wieder Autos vorbei. Überall leuchten die Weihnachtsdekorationen, und in den meisten Stuben dieses Dorfes sitzen Menschen an irgendeinem Gerät – schauen etwas, lesen, kommunizieren, spielen…

Wir leben in einer anderen Zeit als Laura Ingalls und für mich ist es die spannendste Zeit, um hier zu sein. Ich wünsche mir nicht, dass die Zeit zurückgedreht wird. Aber manchmal komme ich nicht umhin zu denken, dass wir mit all dem Fortschritt auch viel verloren haben und in vielerlei Hinsicht ärmer geworden sind. Und dann frage ich mich, wie wir uns beides erhalten könnten: Die technologischen Errungenschaften mit allen Annehmlichkeiten und Vorteilen und gleichzeitig die Einfachheit, die Ruhe, den Gemeinschaftssinn, den direkten Bezug zu unserer Umwelt und den Dingen unseres alltäglichen Lebens.

Vielleicht ist dies eine unserer zentralen Aufgaben als Menschen, die wir in dieser heutigen Zeit leben – in einer Welt, in der es nicht mehr primär ums Überleben geht: Eigenständig den Blick und das Gefühl zu schärfen für das Wesentliche. Wachsam durch die Welt zu gehen und all das, was wir haben, auch wirklich wahrzunehmen. Echte Wertschätzung zu entwickeln für den ganzen Wohlstand, der uns umgibt – die Fülle und Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, Kleidern, Spielsachen, Freizeitartikeln, Elektrogeräten …

Immer wieder bewusst diese Geräte wegzulegen, um uns mit realen Menschen zu unterhalten, nach draussen in die Natur zu blicken oder einfach einen Moment lang innezuhalten.

Laura Grazioli, geboren 1985, ist Landwirtin und ehemalige Landrätin. Sie lebt mit ihrer Familie in Sissach.

MEINE WELT

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