Äpfel, Birnen und Agraffen

Christa Dettwiler

Tante Emma, korrekter: Tia Emilia, ist hierzulande gesund und munter und überall. Meist herrscht sie über ein paar Quadratmeter, vollgestopft bis unter die Dachsparren mit Dingen für den täglichen Bedarf. Selbst vor Wohnhäusern stehen Plakate, die Brot oder Kuchen anpreisen, Eier oder Schweine. Kartoffeln, Käse und Orangen werden ganz nonchalant auch auf dem Pannenstreifen der Autobahn feilgeboten.

Gerade eben haben wir in unserer Lieblings-Fruteria (Gemüse und Früchte) Lachs und Forellen aus dem nahen Nilahue-Fluss entdeckt. Bei Emiliano und Viviana gibt's aber auch Trennscheiben, Nägel und Agraffen. Die lokale Ferreteria (Eisenwaren) verkauft auch Parfüm und Schwangerschaftstests. Im Spirituosenladen liegt handgesponnene Schafwolle aus, der Automechaniker führt auch Hühnerfutter und Teigwaren.

In grösseren Geschäften zieht man eine Nummer, bringt beim nächsten freien Mitarbeiter sein Anliegen vor und erhält – sofern das Gewünschte vorhanden ist – einen Zettel. Damit geht's zur Kasse, mit der Quittung weiter zum nächsten Schalter, wo die Ware ausgehändigt wird. Dieses System schafft nicht nur dringend benötigte Arbeitsplätze, es soll den Einheimischen auch ihren Nationalsport vergällen. Die Chilenen, so sagen die Chilenen, klauen wie die Raben. So wird einem im Supermarkt das teurere Fleisch nicht einfach ausgehändigt, man bezahlt es zuerst an der Kasse, dann nimmt eine Mitarbeiterin die Quittung und holt die zwei Kilogramm gutes Rind an der Fleischtheke ab.

Apropos «sofern das Gewünschte vorhanden ist»: Lagerhaltung kennt man hier nicht. Verkauft wird, was da ist. Vorrat zu halten, ist schlicht zu teuer. Mittlerweile haben wir gelernt, gleich den ganzen Bestand von Dingen zu kaufen, die wir immer wieder brauchen, denn beim nächsten Einkauf wird es sie wahrscheinlich nicht mehr geben. Beim Automechaniker müssen Ersatzteile im Voraus bezahlt werden, damit er sie in der Stadt besorgen kann. Praktisch alle Läden, auch der Supermarkt, bieten Ratenzahlung an. Auch das ein Hinweis darauf, wie knapp Bargeld ist.

Am schönsten ist das Einkaufen an den Ferias, den Märkten, an denen die Leute in allen grösseren Orten einmal pro Woche ihre Waren anbieten. Die Ferias sind bunt und laut und vieles, was zu unglaublich tiefen Preisen angeboten wird, ist – so geht die Legende – vom Lastwagen gefallen. Wir haben uns kürzlich an Baby-Kleidern ausgetobt. Leibchen und Söckchen und Strampler und Jäckchen – etwa 20 Teile haben wir ausgesucht und dafür keine 15 Franken bezahlt.

Auch für jene, die kein Fahrzeug haben, wird gesorgt. Zwei-, dreimal die Woche kommen fliegende Händler vorbei. Ihr lautsprecherverstärkter Singsang treibt die Hunde jedes Mal in den bellenden Wahnsinn. Aber so kommt das tägliche Brot auch in die entlegensten Ecken.

Die Journalistin Christa Dettwiler ist 2022 gemeinsam mit ihrem Sohn und dessen Ehefrau von Rünenberg nach Chile ausgewandert. Sie erzählt regelmässig von ihrem Alltag.

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