In Lauerstellung

«Es ist noch alles möglich», informiere ich meine Kollegin Susanne und den Kollegen Roland um halb fünf Uhr in der Früh. Freitag ists, zweite Olympiawoche. Wieder bahnt sich in einer meiner Nachtschichten eine Schweizer Medaille an. Mindestens eine. «Stimmt», sagt Susanne, «Holdener und Gisin sind in Lauerstellung.» Und ich verziehe das Gesicht. Floskeln in Beiträgen, Moderationen und Kommentaren kann ich nicht leiden. «‹Lauerstellung›? So werde ich bestimmt nicht texten», entgegne ich lachend, aber bestimmt, «von mir wird das Phrasenschwein nicht bedient.»

Zurück am Schnittplatz, beschreibe ich «die gute Ausgangslage» der beiden Skifahrerinnen. In Lauerstellung? Wendy Holdener und Michelle Gisin sind keine Raubtiere, die hinter einem Busch ihrer Beute harren. Sie sind auch keine «Ski-Schätzchen» und schon gar keine «Superstars». Auch so unpassende Formulierungen, die immer mal wieder zu lesen sind, leider.

Eben, die Floskeln und Metaphern. Versuchen Sie mal, sich das bildlich vorzustellen: Wenn eine Sportlerin nach einem Sieg «mit der Sonne um die Wette strahlt» – sie würde verglühen. Wenn ein Athlet «das Herz in die Hand nimmt» – wird er das Rennen kaum beenden. Wenn es «keine leichten Gegner gibt», muss vom Sumoringen die Rede sein. Ist «die Luft draussen», dann ist der Ball kaputt. Und wenn von einem «Abtasten zu Beginn des Spiels» die Rede ist – tragen die Spieler dann Augenbinden? Ein «Knipser»? Ist das der Billettkontrolleur? Es gibt im Fussball weder «sterbende Schwäne» noch «Flankengötter», und es gab noch nie einen Schiedsrichter, der tatsächlich «Tomaten auf den Augen» gehabt hätte. Und was ich mich schon immer gefragt habe: Wenn eine Torhüterin den Ball «aus dem Netz fischt», nimmt sie eine Angelrute zu Hilfe? Und greift der Goalie zu Eimer und Lappen, wenn er «seinen Kasten sauber hält»?

Item. Wendy Holdener und Michelle Gisin gewinnen je eine Medaille. Mit den Worten «Gold, Silber und ganz viele Emotionen …» beginne ich meine Rennzusammenfassung. Dass die beiden «um die Wette strahlen», würde … Wie soll ich sagen? Wie die Faust aufs Auge passen. Doch es ist nicht alles Gold, was sich glänzend formulieren liesse. Nach Feierabend – in meinem Fall: Feiermorgen – verabschiede ich mich aus der Redaktion. «Zwei Medaillen!», ruft Susanne mir noch nach, «Morgenstund hat Gold im Mund.» – «Wie schön die Welt doch ohne Floskeln wäre!», denke ich.

Doch den Traum muss ich wohl begraben. Deshalb mache ich auf dem Heimweg im Baumarkt Halt und kaufe mir eine Schaufel.

Seraina Degen (35) ist in Niederdorf aufgewachsen. Als Torhüterin spielte sie lange leidenschaftlich Fussball, heute bleibt sie beruflich am Ball – als Redaktorin bei SRF Sport.

QUERPASS

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