David Thommen

Sein Laufstil ist unverkennbar – stets ist er mit etwas Vorlage unterwegs, mit kurzen, flachen Schritten und immer etwas abgewinkelten Ellenbogen, die auffällig hin- und herpendeln. So läuft der Mann mit dem weissen Stirnband fast täglich durch Bubendorf. Und das gefühlt seit Menschengedenken! Kaum jemand aus den beiden Frenkentälern, dem der Anblick des Dauer-Dauerläufers nicht vertraut wäre. Er gehört längst zum Dorfbild von Bubendorf, wie die etwas zu modern geratene Kirche oder der historische Dinghof mit seinem prächtigen Giebeldach. Gäbe es von Bubendorf ein Wimmelbuch, der Jogger wäre bestimmt auf jeder Seite irgendwo zu entdecken.

An der Bubendörfer Hauptstrasse stoppen wir eines schönen Abends den Mann mit dem Stirnband: «Entschuldigen Sie. Sie rennen hier unermüdlich wohl schon seit Jahrzehnten …»

«Seit vier Jahrzehnten», entgegnet er. Und schnaufend-lachend: «Zusammengezählt habe ich die Erde schon zweieinhalb Mal rennend umrundet.»

Es begann 1981
Tage später treffen wir den Jogger zum Gespräch; in seinem Büro im Dachstock seines Wohnhauses an der Bubendörfer Hauptstrasse. Kein Stirnband, keine Jogginghose, sondern ein gut gekleideter Geschäftsmann, der geradeso gut soeben aus einer wichtigen Sitzung zurückgekehrt sein könnte und eben erst die Krawatte abgelegt hat.

Rudolf Tanner, verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder, ist kürzlich 73 Jahre alt geworden. Laufen ist seine Leidenschaft, seitdem er 1981 damit begonnen hat. Im Militär war er Offizier und körperlich total fit, sagt er, dies habe er beibehalten wollen. Beim ersten Onoldswiler Lauf 1981 war er dabei, ebenso beim ersten Basler Stadtlauf 1983 – und dann 35 Mal in Folge! Viele weitere Läufe kamen hinzu. Mittlerweile habe er aber alle Ranglisten weggeworfen, sagt er. Sie seien ihm nicht mehr wichtig, denn gerannt sei er letztlich immer nur für sich selbst.

Dabei ist er den meisten anderen Läufern stets weit davongelaufen. Seine Bestzeit für einen Halbmarathon lag zu seinen besten Zeiten bei ausgezeichneten 82 Minuten. Marathon sei nie «seine Distanz» gewesen, sagt er. Nur einmal habe er intensiv darauf trainiert, doch dann sei ihm am entscheidenden Tag geschäftlich etwas dazwischen gekommen. Er hätte die 42,195 Kilometer vermutlich klar unter drei Stunden hinter sich gebracht, sagt er. Das ist für einen Freizeitsportler richtig, richtig schnell!

Rudolf Tanner rennt seit 1981 fast täglich. Manchmal sechs, manchmal acht, manchmal zehn Kilometer, je nach Zeit und Lust. Wo es hingegen keinen Spielraum gibt: 50 Kilometer pro Woche müssten es sein, sagt er. Immer!

In einem Ordner hat er die Distanz und Zeit einer jeden einzelnen Runde seit Beginn vermerkt und verzichtet bis heute auf ein GPS-Gerät, das jeden Schritt aufzeichnet. Pro Jahr kamen durchwegs minimal 2600 bis maximal 3000 Kilometer zusammen, bisher total mehr als 100 000 Kilometer!

Teer muss es sein
Er liebe Zahlenspielereien, sagt er. So hat er ausgerechnet, dass er unterwegs rund 10 000 Liter geschwitzt hat, mehr als 60 Paar Laufschuhe verbraucht oder insgesamt so viel Kraft aufgewendet hat, dass man mit der Energie ein ganzes Panzerbataillon – samt Panzern natürlich – mehrere Meter in die Höhe stemmen könnte.

Auffällig ist, dass Tanner häufig während des Feierabendverkehrs entlang der stark befahrenen Strassen und nicht etwa auf dem Wanderwegnetz in den beiden Frenkentälern joggt. «Die Abgase wie auch hohe Ozonwerte bemerke ich nicht», sagt er. Er habe sich schon einige spitze Bemerkung von Naturfreunden anhören müssen, doch er sei für seinen Sport auf geteerten Untergrund angewiesen. Grund dafür ist sein Laufstil, bei dem seine Füsse immer nur ganz knapp über dem Boden bleiben. Beim Rennen auf unebenen Naturstrassen daure es häufig nicht lange, bis er stolpere und stürze. Manche sagten, er sehe beim Rennen gequält aus, doch sein Laufstil gehöre zu ihm. Und er bringe einen grossen Vorteil: Dadurch, dass er den Schwerpunkt tief hält und nicht trabt wie ein stolzes Pferd, bleiben die Schläge auf die Gelenke gedämpft. Abnützungserscheinungen wie Knorpelschäden seien auch nach mehr als 40 Jahren Dauerlauf noch nie aufgetreten.

Im Gegenteil halte ihn dieser Sport körperlich und geistig ausgesprochen jung und gesund. Krank war er nie? Doch, schon, sagt er. Mitte der 90er-Jahre habe man beim Blutspenden festgestellt, dass etwas nicht stimmte. Diagnostiziert wurde eine seltene Form der Leukämie. Dank der Behandlung konnte die Krankheit zurückgedrängt und seither in Schach gehalten werden. Seine gute körperliche Konstitution habe viel dazu beigetragen.

Tatsächlich wirkt Tanner topfit: Auch mit 73 Jahren denke er noch nicht daran, beruflich in Pension zu gehen. Er ist Gründer, Besitzer und Geschäftsführer der in Läufelfingen ansässigen Firma «PeptART», die Grundstoffe importiert, diese zu «building blocks» umsetzt und damit weltweit Firmen aus dem Bereich der Peptidchemie beliefert. Aus diesen «Bausteinen» werden später aktive pharmazeutische Wirkstoffe auf Peptidbasis für Medikamente produziert. Diesen peptidischen Wirkstoffen gehöre in der Medizin die Zukunft, sagt Tanner.

Heute arbeiten im ehemaligen Gebäude der «Merck» in Läufelfingen rund zehn Angestellte für seine Firma. Gegründet hatte sie Tanner 2015. Seit 2020 nehme der Bedarf an «building blocks» deutlich zu. Das Geschäft gehe mittlerweile regelrecht durch die Decke, freut er sich.

Dass Tanner, der in Bubendorf aufgewachsen ist, mit Peptiden arbeitet, ist nicht weiter verwunderlich: Nach einer Lehre studierte er damals 1971 am Technikum – der heutigen Fachhochschule – in Muttenz Chemie und ging für zwei Jahre ans Medical Center der Boston University. Nach seiner Rückkehr stieg er bei der auf Peptide spezialisierten Bachem ein, die damals gerade von Liestal nach Bubendorf umgezogen war. Er war Angestellter «Nummer 14 oder 15» der noch jungen Firma. Er habe anfänglich im gleichen Labor Rücken an Rücken mit Firmengründer Peter Grogg gearbeitet. Tanner stieg in die Geschäftsleitung der Bachem auf, war Direktor für Entwicklung, Produktion und Technik. Als Grogg beschloss, seine wichtigsten Mitarbeiter an der Firma zu beteiligen, war Tanner einer der Begünstigten. Der Wert der Aktien ist seither explodiert.

Seine Freude an der florierenden Bachem wurde Mitte der 1990er-Jahre aber arg getrübt: Tanner musste wegen Unstimmigkeiten mit anderen leitenden Mitarbeitern gehen. Er machte sich daraufhin selbstständig und war als Berater für den Bau von Laboratorien tätig. Später übernahm er ein Mandat für die indische Peptidfirma Jupiter Bioscience und arbeitete häufig in Indien: «Ich bin auch dort immer gerannt. Die Hitze macht mir wenig aus, im Gegenteil, es hat mir gefallen.»

Dann habe er sich überreden lassen, 2008 eine Jupiter-Niederlassung in der Schweiz zu gründen – im ehemaligen Werk der deutschen Life-Science-Firma Merck, die den Standort Läufelfingen damals gerade aufgab. In den besten Zeiten waren dort 50 Merck-Angestellte tätig. Der Griff nach den Sternen vom Hauenstein aus gelang Jupiter in der Folge allerdings nicht, da die Mutterfirma in Konkurs ging. Irgendwann hätten die Inder die Löhne für die rund 20 Schweizer Angestellten nicht mehr überweisen können, sagt Tanner. Bis 2015 hat er die Jupiter Läufelfingen am Leben erhalten, dann hat er dieser Firma das Inventar abgekauft und die «PeptART» gegründet.

Warum rennt man, Herr Tanner?
In seiner spannenden Job-Biografie gab es erfolgreiche, spannende, zweifellos aber auch schwierige Momente. Wenn man rennt, rennt man manchmal auch vor etwas davon, Herr Tanner?

«Nein, das war bei mir nie der Fall», sagt er. Aber dank einer abendlichen Joggingrunde hätten auch schlechte Tage doch noch einen positiven Abschluss gefunden. Und da Rennen insgesamt keine besonders spannende Angelegenheit sei, habe er immer Zeit gefunden, um auf seinen Runden über Lösungen von Problemen nachzudenken. Die Zeit unterwegs könne man gewinnbringend einsetzen, er habe beispielsweise auch Russisch-Wörter ab Notizzetteln gelernt. Rennen an sich sei ohnehin gar nicht so toll. Das Beste sei das wohlige Gefühl danach.

Es sei ein Privileg, auch mit 73 Jahren weiterhin arbeiten zu können, sagt er. Daheimsitzen und Hobbys zu frönen, sei nicht seine Sache: «Ich bin gerne von Nutzen.» Abgesehen davon pflege er neben dem Rennen und Werken am Wohnhaus auch nicht allzu viele Freizeitbeschäftigungen. «Am ehesten noch Puzzeln», sagt er – was man ihm, der immer viel und schnell in Bewegung ist, nicht auf Anhieb gegeben hätte. Tanner registriert die leise Verwunderung seines Gegenübers und ergänzt lachend: «Ich puzzle gegen die Stoppuhr.» So viel Sportsgeist muss sein.

Sollte er seine Laufschuhe irgendwann an den Nagel hängen, muss Bubendorf über eine originalgetreue Jogger-Statue am Strassenrand nachdenken, um das Ortsbild zu erhalten, das Tanner seit 41 Jahren mitprägt. Mit dem Auftrag an den Bildhauer darf man sich noch Zeit lassen: «Ich renne, solange mich die Füsse tragen», sagt er.

Der Dauer-Dauerläufer

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