Rico Kessler befürwortet die Agrarinitiativen

Am 13. Juni stimmt die Bevölkerung über die Trinkwasser- und die Pestizidfrei-Initiative ab. Überschneidendes Kernthema in beiden Initiativen ist der Einsatz von Pestiziden. Was sind eigentlich Pestizide? Warum und wie gelangen diese ins Wasser? Befürworter Rico Kessler aus Rünenberg steht Rede und Antwort.

Sander van Riemsdijk

Herr Kessler, was sind eigentlich Pestizide und welche wären von den beiden Initiativen betroffen?
Rico Kessler: Die beiden Initiativen betreffen die chemisch-synthetischen Pestizide, die seit einigen Jahrzehnten vorab in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Das sind Substanzen aus dem Labor, die so in der Natur nicht vorkommen. Diese Pestizide dienen dazu, unerwünschte Pilze, Pflanzen und Insekten in landwirtschaftlichen Kulturen abzutöten.

Was ist der Grund für den Einsatz von Pestiziden?
Der Einsatz von synthetischen Pestiziden ist eine vordergründig wirkungsvolle, relativ einfache und billige Methode, um Kulturpflanzen zu schützen.

Warum sind diese ein Problem?
Pestizide bleiben nicht dort, wo sie eingesetzt werden. Rückstände und Abbauprodukte reichern sich im Boden an, sind in Fliessgewässern, im Grundwasser und im Trinkwasser nachweisbar – und sogar im menschlichen Körper. Ich finde das bedrohlich. Vergessen wir nicht, dass wir alle zu über 50 Prozent aus Wasser bestehen. Auch die Natur leidet unter dem hohen Pestizideinsatz in der Landwirtschaft. Besonders betroffen sind kleine Bäche in Ackerbaugebieten. Pestizide im Wasser schädigen oder töten Kleinlebewesen, die am Anfang der Nahrungskette stehen. Deshalb sagt auch der Schweizerische Fischereiverband Ja zu den Initiativen.

Wie gelangen diese Pestizide ins Wasser?
Was viele Menschen nicht wissen: Weite Teile unseres Kulturlandes sind von Entwässerungsleitungen, sogenannten Drainagen, durchzogen. Was auf diesen Flächen ausgebracht wird, gelangt so leicht in unsere Bäche. Auch über offene Dolendeckel und die Abschwemmung von Äckern bei Niederschlag gelangen Pestizide ins Wasser. Sie beeinträchtigen gemäss Forschungen der Bundesanstalt Agroscope aber auch das Bodenleben, also die unentbehrliche landwirtschaftliche Produktionsgrundlage, auf der unser aller Brot wächst.

Gibt es schädliche und weniger schädliche Pestizide?
Besonders problematisch sind Insektizide, zum Beispiel die sogenannten Neonicotinoide. Sie wirken als Nervengift auf Insekten – natürlich nicht nur auf unerwünschte Insekten, sondern auch auf Honigbienen oder Hummeln. Als Staub bei der Ausbringung oder durch Auswaschung bei Regen verbreiten sich die Gifte auch ins Wasser. Um die Zulassung oder eben das Verbot von Neonicotinoiden ist ein weltweites Seilziehen im Gang.

Welche Alternativen zu Pestiziden gibt es?
Zum Glück sehr viele. Durch geschickte Kulturfolge, Nützlingsförderung, mechanische Beikrautbekämpfung oder die Verwendung resistenter Sorten kann der Pestizideinsatz minimiert werden. Und wenn doch eine «Notbremse» nötig wird, stehen auch biologische Pflanzenschutzmittel zur Verfügung. Nicht nur die über 7000 Schweizer Biobetriebe beweisen täglich, dass das funktioniert. Auch nichtbiologische Betriebe verzichten zunehmend auf die problematischen synthetischen Pestizide. So will zum Beispiel die Migros ab 2023 ausschliesslich pestizidfrei angebautes Getreide für ihre Brote verwenden.

Was würde mit der Annahme der Initiativen an der Situation ändern?
Die beiden Initiativen haben eine unterschiedliche Stossrichtung, ergänzen einander aber. Gemeinsam ist ihnen, dass bei einer Annahme der Einsatz synthetischer Pestizide entweder ganz verboten oder sehr stark zurückgehen würde. Die Pestizidfrei-Initiative verlangt zudem, dass auch importierte Nahrungsmittel pestizidfrei produziert wurden. Das schafft gleich lange Spiesse für alle.

Wie steht es um die Qualität des Schweizer Trinkwassers?
Die gute Nachricht lautet: Unser Trinkwasser entspricht strengen gesetzlichen Qualitätskriterien. Die schlechte Nachricht: Die Schweizer Kantonschemiker fanden 2019 in über der Hälfte von 300 Trinkwasserproben Pestizidrückstände. Beruhigt es Sie, dass die meisten Proben unter den gesetzlichen Grenzwerten lagen? Mich nicht. Es ist kein Zufall, dass sehr viele Fachleute aus der Wasserversorgung die Initiativen unterstützen.

Wieso sind die meisten Bauernbetriebe zusammen mit dem Bauernverband gegen die Trinkwasser-Initiative?
Auf manche Betriebe kämen erhebliche Veränderungen zu. Das weckt Sorgen, die ich sehr verständlich finde. Kein Verständnis habe ich für die konstante Blockadepolitik des Bauernverbands in ökologischen Fragen. Der Bauernverband schürt im Interesse der Pestizid- und der Fleischindustrie Ängste, anstatt Teil der Lösung zu sein.

Wird das Trinkwasser nach einer Annahme der Initiative wirklich sauberer?
Ja. Die heute noch nachweisbaren Pestizidrückstände im Wasser würden verschwinden. Das dauert allerdings. Noch heute sind im Trinkwasser Rückstände von Atrazin nachweisbar, obwohl dieses Herbizid seit mehreren Jahren verboten ist. Umso wichtiger, dass wir jetzt umschwenken.

Hätten die Initiativen einen positiven Einfluss auf den Preis und die Qualität unserer Lebensmittel?
Auf die Qualität sicher, wir hätten weniger Pestizidrückstände in Lebensmitteln. Die Preisentwicklung würde stark von der konkreten politischen Umsetzung abhängen. «Positiv» würde für mich bezüglich Lebensmittelpreise heissen, dass die Preise für alle fair und transparent sind – gerne etwas höher als heute. Wir leisten es uns heute, rund einen Drittel der Lebensmittel zwischen Feld und Teller wegzuwerfen. Offenbar sind sie viel zu billig.

Warum befürworten Sie die beiden Initiativen?
Ich möchte mich über saubere Bäche, eine hohe Biodiversität und eine vielfältige, ökologisch fortschrittliche Schweizer Landwirtschaft freuen können. Darum sage ich Ja zu den Initiativen.

Was passiert mit jenen Betrieben, die sich bei Annahme der Initiative nicht an die neuen Regelungen halten können?
Niemand wird zurückgelassen. Vergessen wir nicht: Es ist das Parlament, das die Umsetzung in der Hand haben wird. Dort liegen die Mehrheiten bei denen, die heute die beiden Initiativen vehement bekämpfen. Eine zurückhaltende, sehr langfristig angelegte Umsetzung der Initiativen ist also garantiert.

Zur Person
svr. Rico Kessler ist 59 Jahre alt und Vater von zwei Söhnen. Seit 20 Jahren betreibt er den Hof Berg in Rünenberg, zusammen mit seiner Frau und Landwirtin Claudia Staubli. Nebenbei ist er beruflich zu 60 Prozent für Pro Natura Schweiz in Basel tätig. Er ist im Vorstand der Grünen Partei Region Gelterkinden und Mitglied der Sozialhilfebehörde Rünenberg, Kilchberg und Zeglingen.
Morgen Freitag, den 21. Mai, hält Rico Kessler um 19 Uhr einen öffentlichen Vortrag mit Diskussion unter dem Titel «Wie gelangen Pestizide in unsere Gewässer?». Der Vortrag findet im Zeughaus in Gelterkinden statt (mit Corona-Schutzkonzept, maximal 50 Teilnehmende).

«Sich über saubere Bäche freuen»

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