Andres Klein

Pflanzen, die weit verbreitet sind oder sehr häufig vorkommen, können als erfolgreich bezeichnet werden. Sie besitzen Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihnen im Aufwachsen, bei der Verbreitung oder bei der Schädlingsanfälligkeit helfen. Sie setzen sich dank dieser Eigenschaften gegen andere Pflanzenarten durch, die zum Beispiel weniger rasch wachsen, weniger Samen produzieren oder frostempfindlich sind. Dort, wo diese erfolgreichen Pflanzen häufig vorkommen oder gar dominieren, haben sie sich optimal an die lokalen Gegebenheiten angepasst.

Erstaunlich ist, dass viele der häufigsten Pflanzen bei uns weder besonders gross, noch besonders auffallend sind. Sie haben oft kleine, unscheinbare Blüten und kaum auffällige äussere Merkmale. Eine dieser unauffälligen Pflanzen – eine der häufigsten in unseren Buchenwäldern – ist das ausdauernde Bingelkraut. Fast alle kennen das Maiglöckchen («Mäieryysli»), aber kaum jemand kennt das unscheinbare Bingelkraut. Es kommt auf gut durchlüfteten, steinigen, kalkhaltigen Böden in Laubwäldern von der Wolga bis nach Holland und von Südnorwegen bis in die Sierra Nevada vor.

Dieses bescheidene Kraut gehört zu den Wolfsmilchgewächsen, obwohl es keinen Milchsaft ausbildet. Es hat ovale, einander gegenüberstehende Blätter mit Rändern wie ein Sägeblatt und Blüten, die grün-gelb sind und im Durchmesser weniger als einen halben Zentimeter messen. In der Regel gibt es Pflanzen mit nur weiblichen und solche mit nur männlichen Blüten. Das Bingelkraut ist also zweihäusig.

Der Name Bingelkraut stamme vom Wort pinkeln ab, da es, wie fast alle Medizinalpflanzen, harntreibend sei. Bingelkraut gilt auch als abführend, wird aber heute kaum mehr eingesetzt. Für Nutztiere wie Wiederkäuer, Schweine und Pferde ist dieses Kraut hingegen sehr giftig. Im wissenschaftlichen Namen Mercurialis perennis ist der Name des Quecksilbers enthalten. Dies kommt davon, dass die getrockneten Blätter silbrig wie dieses giftige Metall glänzen.

Die alten griechischen Urmediziner Hippokrates und Dioskur haben das Bingelkraut als Abführmittel empfohlen. Der zweite ging sogar so weit, dass er Frauen im gebärfähigen Alter empfahl, weibliches Bingelkraut zu essen, wenn sie ein Mädchen und männliches, wenn sie einen Knaben empfangen wollten. Dummerweise hat er damals männliche und weibliche Blüten verwechselt. Irren ist menschlich, sogar bei Medizinern.

Selbstverständlich hat der Name Mercurialis perennis auch die Phantasie der astrologischen Medizin beflügelt. Dies nicht nur, weil der Gott Merkur Flügel hatte, sondern weil dieser Planet das Nervensystem regiere und für allerlei Tricks zuständig sei. Doch auch hier würde ich von Selbstversuchen abraten, ausser man kennt ein todsicheres astrologisches Gegengift.

Wer jetzt aufmerksam durch unsere Buchenwälder streift, kann das erfolgreiche, bereits fruchtende Bingelkraut entdecken. Denn zu seinem Erfolgsrezept gehört auch, dann zu blühen, wenn es noch hell ist im Wald, also bevor die Buche ihre wunderbaren frisch-grünen Blätter austreibt.

Andres Klein ist Biologe. Er lebt in Gelterkinden.

Unscheinbar, aber äusserst erfolgreich

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