Wir Abfallsünder

Zuerst war es uns peinlich. Dann haben wir uns geärgert. Und am Schluss waren wir versöhnt – zumindest ein klein wenig. Worum es geht? Wir – Neuzuzüger aus der Schweiz, ordentlich, bemüht, pflichtbewusst – wurden Opfer eines Abfalldetektivs. In Amerika! Einem Land, das zu Abfall eine ähnliche Beziehung hat wie zu kalorienreichem Essen: sehr entspannt.

Begonnen hatte es mit einem Hinweis der Vermieterin, gleich nach dem Einzug ins neue Heim. Einmal pro Woche komme der Abfallwagen, und es sei wichtig, sich diesen Tag zu merken. Bei uns im Quartier heisst das: Immer mittwochs röhrt das Ungetüm von einem Gefährt durch die enge Gasse, welche die Hinterhöfe der Nachbarschaft verbindet. Man schiebt dann zwei Kübel nach vorne, an die Gasse, einen grauen Kübel für den Kehricht, einen blauen für all das, was die Amerikaner unter Recycling zusammenfassen: Karton, Glas, Pet, selbst Batterien.

Auch wir stellten an einem Mittwoch vor ein paar Monaten wie immer unsere Kübel raus. Doch dann, ein paar Tage später, ein Brief von der Stadtverwaltung. Inhalt: zwei wacklige Fotos mit Zeitstempel, aufgenommen von einem Abfalldetektiv. Sie zeigen unseren Hinterhof, und man sieht mehrere gefaltete Kartons, die an unsere Hausmauer gelehnt sind – unsere Umzugsschachteln, die nicht in den blauen Kübel passten, weshalb wir sie ein paar Tage draussen stehen gelassen hatten. Busse: 120 Dollar! Begründung: Littering. In unserem eigenen Hinterhof!

Nun muss man wissen, was sich sonst noch in der Gasse hinter unserem Haus findet: ein kaputtes Sofa, das da seit letztem Frühling steht. Umgekippte Abfallkübel. Ein riesiges Stück Karton in der Mitte der Gasse, das schon so lange dort liegt, dass es längst Teil des Strassenbelags geworden ist. Ein Autowrack in einer verlassenen Garage. Und dazwischen: ein paar dicke Ratten, die zwischen den Kübeln hin und her huschen. So ist das überall in Washington, auch in den besseren Vierteln. Vorne, zur Strassenseite: hui. Hinten, wo es niemand sieht: eher pfui.

Das passt zur Art und Weise, wie die Amerikaner mit Abfall umgehen. Nirgendwo wird mehr Plastik verbraucht. Im Supermarkt gibt es nichts, das nicht in Plastik eingewickelt kommt, selbst geschälte Äpfel und Bananen. Wer in einem Bistro ein Croissant bestellt, erhält es eingepackt in eine Plastikschachtel. Und natürlich gibt es zu jedem Getränk ein Plastikröhrchen. Entsprechend türmen sich überall die Abfallsäcke.

Niemals aber haben wir von jemandem gehört, dem ein Abfalldetektiv auf den Hals geschickt worden wäre. Dass es ausgerechnet uns traf, wegen ein paar Kartonschachteln, schien uns grotesk. Wir reagierten auf das Schreiben denn auch auf eine landestypische Weise: mit einer Beschwerde an die Stadtverwaltung, in der wir gleichzeitig gelobten, uns künftig an die Abfuhrmodalitäten zu halten. Die Beschwerde landete vor einem Gericht, und sie endete mit einem Erfolg. Die Hälfte der Busse bekamen wir erstattet. Ein paar Monate hier und schon den Rechtsweg bestritten: Damit sind wir wohl schon sehr amerikanisiert.

Der Sissacher Alan Cassidy ist USA-Korrespondent für den «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung». Von 2006 bis 2008 schrieb er für die «Volksstimme».

WASHINGTON POST

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