Albanien, eine verkannte Perle

Tirana | Entdeckungsreise durch Landschaften, Traditionen und ein Land im Wandel

Eine Reise mit Bahn, Schiff, Bus und Taxi – quer durch Albanien, alles mit öffentlichen Verkehrsmitteln und einheimischen Fahrern. Ein Reisebericht.

Stefan Zemp

Mit dem Nachtzug ging es von Zürich nach Budapest, über Subotica, das Zentrum des ungarischen Jugendstils, und weiter durch Serbien. Der nächste Nachtzug führte von Belgrad über Montenegro bis nach Shkodra, Albanien. Von hier aus starteten wir ein Abenteuer zu Fuss: über einen 1870 Meter hohen Pass von Theth nach Valbona, ein Weg, der so beeindruckend wie anstrengend ist.

Anschliessend fuhren wir mit der Fähre dreieinhalb Stunden über den Koman-Stausee und gelangten per Bus in die Hauptstadt Tirana. Eine pulsierende Stadt mit etwa 2,4 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, die bis spät in die Nacht kaum einen Unterschied zu anderen europäischen Städten zeigt.

Fremde Rhythmen
Weiter ging es nach Korça, wo wir das Vergnügen hatten, der Vorstellung des Vereins zur Erhaltung der Trachten- und Tanzkultur anlässlich seines 50-Jahre-Jubiläums beiwohnen zu dürfen. Eigentlich war die Vorstellung ausverkauft, doch dank der Hilfe unserer Hotelmanagerin bekamen wir noch Plätze – sie hatte uns eine Extrareihe ermöglicht. Unglaublich, diese Musik und Tänze – häufig in unregelmässigen Rhythmen, die für unsere Ohren fremd klingen. Diese Region an der Grenze zu Griechenland und Nordmazedonien wird noch von den Aromunen bewohnt, einer Minderheit, die als ehemaliges Hirtenvolk über den Balkan verstreut lebt und eine Sprache spricht, die mit dem Romanischen verwandt ist.

Ein Abstecher führte uns nach Voskopoja, einem früheren Kloster und Zentrum der Aromunen, das einst als «Byzanz der Aromunen» bekannt war. Die Vielfalt der gemalten Fresken und die kunstvollen Holzschnitzereien zeugen von einer kulturellen Blüte längst vergangener Zeiten.

Weiter ging es nach Leskovik. Dort besuchten wir eine alte Schnapsbrennerei, die kürzlich wieder aufgebaut wurde und vom «Time»-Magazin zu einem der «World’s Greatest Places 2024» gewählt wurde. Die dortige Hotellerie war vom Allerfeinsten, und das für uns Schweizer zu durchaus erschwinglichen Preisen. Der Komfort in den Hotels war überhaupt unglaublich hoch.

Durch die berühmte Vikos-Schlucht, eine der spektakulärsten Europas, setzten wir unsere Reise fort und landeten bald in Griechenland, in Papigo, einem malerischen Bergdorf an der albanisch-griechischen Grenze. Die ständig wechselnden Anforderungen an den Grenzübergängen waren faszinierend, besonders die Sprache der Grenzbeamten. Diese war hier an der Aussengrenze Europas ganz anders als etwa zwischen Montenegro und Albanien.

Auf Cäsars Pfaden
Im Vjosa-Tal, das vom letzten grossen Wildfluss Europas durchzogen wird, der frei mäandrieren kann und jedes Jahr seinen Lauf ändert, folgten wir einer alten Route, auf der schon Cäsar unterwegs war. Ein Schmelztiegel der Kulturen: Griechisch, römisch, osmanisch, orthodox – alles auf engstem Raum. Ich nutzte die Gelegenheit, um mir bei einem lokalen «Berber» (albanische Schreibweise für Barber) meine Sturmfrisur gesellschaftskompatibel auf Schweizer Verhältnisse anpassen zu lassen.

In diesem Tal liegt Gjirokastra, die osmanische Stadt und Unesco-Welterbe. Dank eines dazu gestossenen deutschen Schriftstellers und Journalisten, der seit sieben Jahren in Albanien lebt und sich seine «Berliner Schnauze» bewahrt hat, erhielten wir wertvolle Hintergrundinformationen in unserer Muttersprache. Mamma mia!

Schliesslich erreichten wir die albanische Riviera und kamen in den Genuss eines besonderen Abendessens in einer Olivenölmanufaktur. Ein junger Albaner, der einige Jahre in Kanada verbrachte, erkannte das Potenzial einer hochwertigen Olivenölproduktion und schuf mit den 250 Jahre alten Olivenbäumen seiner Grossmutter eine solide Basis, die mehreren Menschen eine neue Perspektive gibt. Wenn man bedenkt, dass Albanien erst 1991 von der kommunistischen Diktatur befreit wurde und seitdem einen unglaublichen Aufschwung erlebt (quasi von null auf hundert), erstaunt es kaum, dass das Leben auf dem Land mit Korruption und bäuerlicher Kultur stark mit dem modernen Leben der jungen Leute in der Stadt kontrastiert.

Unsere Reise endete in Durrës, Albaniens grösstem Hafen, wo wir das Schiff bestiegen und durch die Nacht nach Bari, Italien, übersetzten. Ein italienischer Bahnstreik hielt uns dort auf, und so entdeckten wir unverhofft die byzantinische Altstadt aus dem Jahr 1000 – das Staunen wollte kein Ende nehmen. Schliesslich hiess es: Ende gut, alles gut, und zurück im Alltag – reich an unvergesslichen Eindrücken.

Stefan Zemp ist Hafner und ehemaliger SP-Landrat aus Sissach.

REISEBERICHT

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title