«Lieber mit der Jugend reden als über sie»
24.10.2024 Bezirk Sissach, GelterkindenIm Beisein von Regierungsrat Thomi Jourdan spricht Zukunftsforscher Andreas M. Walker im Marabu in Gelterkinden morgen Freitag über die Perspektiven der heutigen Jugend und über Wege, in der heutigen konfliktbeladenen Zeit bei ihr Perspektiven und Optimismus zu wecken.
Jürg Gohl
Herr Walker, Sie wurden eingeladen, in Gelterkinden über die Perspektiven der heutigen Jugend zu reden – voraussichtlich vor lauter Erwachsenen. Ist das nicht das falsche Publikum?
Andreas Walker: Es sorgt bei mir tatsächlich immer wieder für grosse Spannung, zu sehen, wer erscheint. Es wäre sehr schön, wenn betroffene Jugendliche mitmachen würden. Ich denke nicht an Zwölfjährige, aber an 17-, 18-Jährige, die sich selbst mit dem Thema ihrer Perspektiven auseinandersetzen und sich am Abend sogar einbringen. Wir wollen nicht über die Jungen reden, sondern mit den Jungen.
Was sagt Ihnen Ihre Erfahrung?
Sie zeigt, dass die Jungen schwer für solche Gefässe zu gewinnen sind. Die Veranstalter, in diesem Fall die Jugendkommission Gelterkinden, werben selbstverständlich immer. Die Realität zeigt aber, dass Lehrpersonen, Jugendleiterinnen und -leiter und Eltern im Publikum sitzen. Und Grosseltern.
Wird sich Ihr Referat auch um den oft zitierten Generationenkonflikt drehen?
Nein. Im Zentrum steht, dass aktuell eine Weltlage herrscht, die wenig Zuversicht weckt. Stichworte sind der Klimawandel, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die Digitalisierung, die uns Arbeitsplätze wegnimmt, und so weiter. So sagen sich viele Jugendliche, dass ihre Perspektive schlecht ist.
Erstmals seit dem Ende des letzten Weltkriegs vor bald 80 Jahren wächst eine Generation mit schlechten Perspektiven heran. Sind Sie mit dieser Aussage einverstanden?
Wir verfügen über relativ viele zuverlässige Statistiken, und diese belegen klar: Junge, die Angst haben, Junge, die magersüchtig oder depressiv sind, Junge, die Selbstmordversuche unternehmen, Junge, die vereinsamen, gibt es in einer Zahl, wie wir sie noch nie erlebt haben. Das sind medizinische Fakten, die eine Resignation belegen, sodass sich heute junge Menschen gar nicht mehr mit der Zukunft befassen.
Bringen Sie Lösungsansätze mit?
Wir stehen nicht vor einem einzigen Problem, sondern vor vielen komplexen. Sie lassen sich nicht mit einem Knopfdruck lösen. Vor 15 Jahren habe ich das Hoffnungsbarometer gegründet. Seit Beginn erheben wir mit empirischen Umfragen Zahlen zur Hoffnung bei jungen Menschen. Das ergibt ein Paket von Haltungen und Entwicklungen, das für uns Zukunftsforscher sehr wertvoll ist. Diese Erkenntnisse bringe ich mit nach Gelterkinden, damit Schulen, Vereine, die Politik und die Eltern diese in ihrem Alltag berücksichtigen können.
In Deutschland und in Österreich ist bei Wahlen in diesem Jahr aufgefallen, dass die Jungen, die vor vier Jahren perspektivisch Grün gewählt haben, plötzlich AfD und Rechtsnationale bevorzugen. Werten Sie das auch als Zeichen, dass nicht mehr an eine positive Zukunft geglaubt wird?
Das wird nicht Gegenstand des Referats sein. Aber wir sehen natürlich immer Pendelbewegungen. Nachdem unsere Generation, die Babyboomer, eher den 68ern und den Nach-68ern angehört, ist es ein naheliegender Gedanke, dass die nächste Generation auf die andere Seite drängt. Was sich hier aber weit stärker bemerkbar machen dürfte, ist, dass in Zeiten der Komplexität, wie wir sie aktuell erleben, die Leute das Bedürfnis nach einem einfachen Allerweltsmittel haben. Es ist paradox: Je komplizierter die Welt, umso grösser der Wunsch nach einer einfachen Lösung. Deshalb haben Populisten Hochsaison.
Umfragen zeigen, dass junge Männer anfälliger sind als Frauen.
Das liegt auf der Hand. Viele junge Männer sind wegen ihrer beruflichen Unsicherheit und zudem wegen der ganzen Gender-Diskussion und der Frauenförderung völlig verunsichert. Das stellen wir klar fest. In dieser Situation fragen sich die Betroffenen, ob sie sich dem Problem stellen oder sich doch lieber ins Schneckenhaus zurückziehen wollen.
Wie kommen wir, nicht nur die Jungen, am besten über die Runden?
Auf der einen Seite vergisst unser Gehirn bewusst. Wir verdrängen unsere Probleme und Niederlagen systematisch. Würde es alle schlechten Erfahrungen bewahren, würden wir uns nicht mehr getrauen zu leben und nach vorne zu blicken. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass die ältere Generation seit Jahrtausenden Probleme mit der jüngeren bekundet. Ob bei Aristoteles oder in der Bibel: Alte Männer schimpften schon immer grundsätzlich über die Jungen.
Sie sind in Basel aufgewachsen und treten jetzt in Gelterkinden auf. Unterscheiden sich da die Jugendlichen? Ist mit der Jugend auf dem Land einfacher zu kutschieren?
Konkrete Zahlen zu diesem Thema gibt es nicht. Deshalb dürfte ich als Wissenschaftler hier nicht antworten. Bei dieser Frage kommen viele Aspekte zum Tragen. Wesentlich ist zum einen die Lebensfreundlichkeit im Umfeld, in dem ich aufwachse. Ob ich in einer urbanen, verbauten oder in einer ländlichen, natürlichen Umgebung aufwachse, wirkt sich nachweislich auf meine Psyche aus. Auch das Sichbewegen, möglichst in der freien Natur, tut unserer Psyche gut. Wir wissen auch, dass ein klares Wertebild dazu beiträgt, junge Leute zu stabilisieren.
Das tönt sehr idyllisch. Kein Aber?
Auf einem anderen Blatt steht, was geschieht, wenn jemand auf dem Land in der falschen Familie aufgewachsen ist. Da ist es in der Stadt wesentlich einfacher, andere, neue Freunde, quasi einen Plan B, zu finden als auf dem Land. Wer auf dem Land in einer intakten Familie aufwächst, erlebt eine schöne Kindheit. Aber wehe, er hat einen bösen Vater.
«Zukunft will Zuversicht», Referat von Zukunftsforscher Andreas M. Walker, anschliessend Podium unter anderem mit Regierungsrat Thomi Jourdan; Freitag, 25. Oktober, 19.30 Uhr, Marabu, Gelterkinden. Freier Eintritt, Kollekte.
Zur Person
jg. Dr. Andreas M. Walker (59) studierte Geografie und Geschichte. In seiner Doktorarbeit befasste er sich mit Raumplanung, der baulichen Gestaltung der Zukunft.
Nach einem Abstecher in die Finanzwelt arbeitet er seit 2002 selbstständig und befasst sich primär mit Zukunftsfragen. Als langjähriger Co-Präsident ist er seit 2020 Ehrenmitglied von «swissfuture» und hat mehrere Lehraufträge an Hochschulen inne. Er berät Politik, Behörden, Wirtschaft und Organisationen zu Fragen zukünftiger Chancen und Risiken.
2009 rief er das Hoffnungsbarometer ins Leben. Er wohnt in Basel und ist selbst vierfacher Vater und zweifacher Grossvater.