Ein Augenblick wider das Vergessen
07.11.2024 Bezirk LiestalMenschen mit Demenz erhalten einen Platz im Museum.BL
Wer an Demenz erkrankt, verliert rasch seine sozialen Kontakte und seinen Platz in der Gesellschaft. Das Museum.BL schafft mit «Time Slips» einen Raum für kreatives Geschichtenerfinden. Dort erfahren Betroffene und ihre Begleitpersonen einen Moment der Wichtigkeit und Wertschätzung.
Martin Herzberg
Rund 156 000 Menschen in der Schweiz, so schätzt das Bundesamt für Gesundheit BAG, leben mit einer Demenz. Jedes Jahr kommen über 33 000 neue Fälle hinzu. Demenzielle Erkrankungen sind vielschichtig. Die bekanntesten Symptome sind zunehmender Gedächtnisverlust, der Rückgang kognitiver Fähigkeiten und – damit einhergehend – Wortfindungsstörungen. Die Fähigkeit, ein normales Gespräch zu führen, erlischt zunehmend. Das ist belastend; sowohl für die Betroffenen als auch für ihre Angehörigen und Bezugspersonen. Meist ziehen sich die Menschen mit Demenz zurück. Sie meiden Kontakte zum angestammten Umfeld und isolieren sich. Dabei wären soziale Interaktionen extrem wichtig, um die verbleibenden Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern.
In Alters- und Pflegeheimen ist man sich dessen bewusst. Unter dem Begriff «Aktivierung» werden dort alle Tätigkeiten zusammengefasst, die darauf abzielen, betagten und dementen Menschen eine Teilhabe am alltäglichen Leben zu ermöglichen. Gemeinsam kochen beispielsweise, etwas basteln, ein Hochbeet pflegen oder als Gruppe einen Ausflug machen; alles begleitet von ausgebildeten Fachpersonen.
Kreatives Gespräch
Aber welche Möglichkeiten haben Angehörige von Menschen mit Demenz, um sich eine Pause im privaten Betreuungsalltag zu verschaffen? Einem Alltag notabene, der sich ohne Weiteres zu einer 24-Stunden-Betreuung ausweiten kann. Wo können sich Menschen mit Demenz, wenigstens für eine kurze Zeit, wertvoll und ernstgenommen fühlen?
Das Museum.BL in Liestal bietet dafür «Time Slips» (englisch für Zeitschnipsel) an. Und das funktioniert so: Mitarbeitende des Museums wählen aus der Fotosammlung oder den Kunstsammlungen ein Kunstwerk aus, nach klar umrissenen Kriterien. Menschen mit Demenz und ihre Begleitpersonen treffen sich in einer Runde von etwa sechs Personen im Foyer des Museums. Das Kunstwerk wird von einer Moderatorin präsentiert. Die Menschen mit Demenz dürfen beschreiben, was sie auf dem Bild sehen oder was ihnen das Bild sagt. Claudia Flück, Abteilungsleiterin der Aktivierung im Seniorenzentrum Schönthal, Füllinsdorf, und ausgebildete Time-Slips-Moderatorin, führt durch den Anlass.
Die Time-Slips-Methode geht auf die amerikanische Kulturanthropologin Anne Basting zurück. Sie hat festgestellt, dass durch die Betrachtung und Beschreibung von Bildern ein kreatives Gespräch entsteht – auch bei Menschen mit eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten. Die Methode ist wissenschaftlich begleitet und unterstützt.
«Der macht im Theater etwas, vielleicht spielt er dort. Das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist in der Stadt. Der mit dem Gras auf dem Kopf, der wartet auf was, da bin ich mir ganz sicher. Die anderen zwei sind verrückt. Die zwei arbeiten nichts, die sind in der AHV. Aber alle haben eine lange Nase, ausser der in der Mitte. Genau der in der Mitte nicht. Aber wer hat dem etwas auf den Kopf gesät? Der eine studiert einfach etwas …» So klingt ein Auszug aus der Geschichte über das Bild links.
Gesprächsleiterin Claudia Flück stellt sicher, dass alle Wortmeldungen gehört werden. «Es gibt keine falschen Aussagen», erläutert sie, «alle Äusserungen sind wichtig und richtig.» Flück animiert die Teilnehmenden, an der Bildbeschreibung mitzumachen, ihre Reaktionen und Assoziationen mitzuteilen. Eine zweite Person notiert alle Aussagen und liest diese – als Gedächtnisstütze – immer wieder vor. So entsteht mit der Zeit eine Geschichte rund um das Kunstwerk, erzählt aus der Sicht der Menschen mit Demenz.
Die Begleitpersonen dürfen dabei sein und den Entstehungsprozess der Geschichte miterleben. Es kann durchaus vorkommen, dass andere Besuchende des Museums auf die Bildbetrachtungsgruppe stossen. Simone Ochsner, Leiterin Bildung und Vermittlung im Museum.BL und Organisatorin der Anlässe, erzählt: «Museumsgäste, die an einer Time-Slips-Veranstaltung vorbeigehen, sind immer wieder beeindruckt von der konzentrierten und intensiven Stimmung während der Bildbetrachtungen. Ich übrigens auch. Man merkt gar nicht, dass es sich um Menschen mit Demenz handelt, wenn man es nicht weiss.»
Eins ist den Organisatorinnen Flück und Ochsner wichtig: «Es braucht absolut keinerlei Kunstkenntnisse.» Vielmehr gehe es um ein Bild und seine Wirkung auf die Beschreibenden. Wobei auch nicht jedes beschriebene Bild ein Kunstwerk im üblichen Sinne sei. Auch «Hanro»-Werbeplakate aus den 1960er-Jahren oder Alltagsfotografien des Baselbieter Fotografen Theodor Strübin waren schon Thema.
Inklusives Haus
Nach rund einer halben Stunde kommt die Bildbeschreibung zum Abschluss. Alle Teilnehmenden einigen sich gemeinsam und einstimmig auf einen Titel ihrer Geschichte. Dann geht es zum gemeinsamen Kaffee und Kuchen. Dieser Teil der Veranstaltung ist genauso wichtig wie die Bildbetrachtung. Die Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen und die Betreuungspersonen unterhalten sich über das Erlebte und runden so den Anlass ab. Angehörige berichten von der guten Stimmung, in der sich die Menschen mit Demenz nach der Veranstaltung befinden. «Es isch wider churzwyylig gsii», aus dem Mund eines Teilnehmers, ist wohl das schönste Kompliment an den Anlass.
Die Time-Slips-Veranstaltungen stehen allen Menschen mit Demenz, ihren Angehörigen und Freunden offen. Ochsner präzisiert: «Wir verstehen uns als inklusives Haus; es gibt noch viel zu tun.» Der Mensch mit Demenz wird an diesem Anlass für einmal nicht auf sein Defizit reduziert. Im Gegenteil; alle Wortmeldungen haben Gewicht, alle Teilnehmenden sind Teil eines kreativen Prozesses und Teil des öffentlichen Lebens. Dies beeinflusst die Stimmung und das Wohlbefinden positiv und fördert dabei die Konzentration und die verbalen Fähigkeiten.
Jeden Monat stellt das Museum.BL ein Kunstwerk für Time-Slips zur Verfügung. Die Veranstaltungen sind kostenlos, exkl. Kaffee und Kuchen. Nächste Veranstaltungen: jeweils Freitag, 8. November und 13. Dezember, 14 bis 15 Uhr. Informationen: museum@bl.ch oder 061 552 59 86. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.