Die Fieberkurve steigt
20.02.2025QUERPASS
Angenommen, Sie würden im Juli gern ein Spiel der Fussball-Europameisterschaft der Frauen besuchen, konnten aber noch kein Ticket ergattern und haben gerade keine Lust, es im Internet nochmals mühselig selbst zu versuchen wie alle anderen: Wen würden Sie fragen, um an eines zu kommen? Vielleicht sagen Sie sich, da gehe ich doch gerade «ooben yyne» und frage Turnierdirektorin Doris Keller persönlich. Die hats doch nicht so streng ein paar Monate vor der EM! Ist bestimmt eine Nette und hat sicherlich noch ein paar Tickets «füürig». Vielleicht glauben Sie, der direkte Weg via Spielerin funktioniere am besten, und gehen mal eben ein Mitglied des Nationalteams an? Wäre ja gelacht, wenn es für Sie kein Plätzchen im «Joggeli» mehr gäbe …
Vielleicht denken Sie nun: «Nie im Leben würde ich mich so was getrauen.» Aber ich verrate Ihnen: Genau dies passiert. Doris Keller erzählte mir, sie habe aufgehört zu zählen, wie oft sie schon angefragt worden sei – auch von Wildfremden. Und Innenverteidigerin Luana Bühler sagte mir diese Woche im Interview mit ungläubigem Lachen, «wöchentlich» werde sie um Tickets angebettelt. Das ist, mit Verlaub, die etwa gleich «gute» Idee, wie Roger Federer zu bitten, ob er für die Hochzeit eines Freundes noch rasch ein Gratulationsvideo aufnehme. Oder, um beim Tennis zu bleiben, Noch-Bundesrätin Viola Amherd anzufragen, ob sie nach dem Rücktritt mal kurz ein Plauschmätschli spielen komme im Tennisklub, sie habe doch dann viel Zeit. Sie dürfe auch gern zum Grillplausch bleiben.
2. Juli! Noch 133 Tage dauert es bis zum Eröffnungsspiel im Basler St.-Jakob-Park. Die EM-Fieberkurve steigt gewaltig, alle wollen Karten, selbst Arbeitskolleginnen, Freunde und Bekannte, die bislang nur in ein Stadion gingen, wenn dort die Rolling Stones oder Ed Sheeran auftraten, sind «giggerig», dabeizusein. Die Nationalspielerinnen Lia Wälti und Coumba Sow bringen je ein Kinderbuch heraus. Jeder Verein plant eine Aktion, jeder regionale Verband einen Event, es wimmelt von Veranstaltungen zum Thema Frauenfussball und EM. Auch ich erhalte zahllose Anfragen für Referate und Podien, um von meinen Erfahrungen zu berichten. Und vergangene Woche schrieb mir die Mitarbeiterin einer Bank, sie plane fürs Frauennetzwerk einen Sommerevent zum Thema Fussball und EM – ob ich denn am Abend des 2. Juli Zeit für einen Auftritt hätte?
Ähm … 2. Juli? Ich glaube, da habe ich bereits etwas anderes vor. Aber wenigstens fragte sie nicht auch noch, ob ich Tickets für sie hätte …
Seraina Degen
Seraina Degen (37) ist in Niederdorf aufgewachsen. Als Torhüterin spielte sie lange leidenschaftlich Fussball, heute bleibt sie beruflich am Ball – als Redaktorin bei SRF Sport.