Der verlorene Sohn aus Moskau
21.11.2024 RickenbachHistorische «Müschterli» zur 750-jährigen Dorfgeschichte (4. Teil*)
Der im 19. Jahrhundert in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Heinrich Handschin verliess Rickenbach, um in der Fremde sein Glück zu finden. Er wurde ein erfolgreicher Industrieller – und Gönner Rickenbachs.
Die Gemeinde Rickenbach feiert dieses Jahr ihr 750-jähriges Bestehen. Der Historiker und frühere Gemeindepräsident Marco Geu ist zu diesem Anlass in die Dorfgeschichte eingetaucht und hat für die Gemeinde einige Beiträge verfasst, die wir mit deren Einverständnis abdrucken. Der vierte und letzte Teil befasst sich mit Heinrich Handschin.
Vieles ist schon zu Heinrich Handschin (1830 –1894) geschrieben worden. Bis heute wird das Andenken an den «Moskauer» im Kanton Basel-Landschaft bewahrt. Dass er unter den vielen Auswanderern des 19. Jahrhunderts zu einem wurde, den man nicht nur gerne losgeworden war, sondern auch gerne wieder zu Hause empng, lag primär an seinem Vermögen. Als einer von wenigen hatte er es in der Fremde «geschafft». Als er sein Heimatdorf verliess, war das aber alles andere als klar und auch nicht sehr wahrscheinlich.
Die traumatisierende Armut seiner Kindheit in Rickenbach war ohne Zweifel die grosse Triebfeder seines Lebens. Ihr wollte er mit aller Kraft entkommen und in sie wollte er nie wieder zurückfallen. Verlassen konnte er sich dabei nur auf seine eigenen Fähigkeiten, die er sich als Kinderarbeiter erwerben musste. Die Schule in Rickenbach verbesserte seine Startchancen jedenfalls nicht. Schaffen konnte er es nur mit harter Arbeit. Und so folgte Handschin auf seinem Lebensweg den Möglichkeiten, die sich ihm boten, um mit harter Arbeit wirtschaftlich aufzusteigen. Dass er deshalb mehr als 25 Jahre seines Lebens in Moskau verbringen würde, war wohl eher Zufall.
Ausser der Arbeit hielt Handschin nicht viel in Moskau. Seine Webstühle und viele Fachkräfte holte er aus dem Oberbaselbiet, darunter auch seinen Nachfolger. Dank dessen Fähigkeiten konnte der verbissene Handschin sein Lebenswerk in Moskau schliesslich loslassen und kam 1885 als «gemachter Mann» zurück nach Basel. Schon zuvor hatte er seiner Familie in Rickenbach – wohl um diese nanziell zu unterstützen – sein Elternhaus (Hauptstrasse 8) abgekauft.
Ab 1878 spendete er der Gemeinde Rickenbach jährlich 500 Franken, um ein Weihnachtsfest für die armen Dorfbewohner auszurichten. 1881 stiftete er der Gemeinde das Uhrwerk für das Schulhaus, das erst kürzlich restauriert nach Rickenbach zurückgekehrt ist. 1885 spendete er 1000 Franken an den Bau der Wasserversorgung, mit der Bedingung, dass im Garten vor seinem Elternhaus der Springbrunnen aufgestellt werde, der noch heute existiert. Von Basel aus fuhr er sonntags häufig im eigenen Pferdewagen nach Rickenbach, wo er in seinem Sommerhaus auf sein Heimatdorf blickte.
Nach seinem Tod wurde dieses Sommerhaus in den Garten des Restaurants zur Post versetzt, wo es bis in die 1970er-Jahre stand. Handschins grösste Spende nach Rickenbach kam schliesslich aus seinem Testament. Der Bürgergemeinde vermachte er 50 000 Franken, um von deren Zinsen jährlich für alle Kinder im Dorf eine Weihnachtsfeier mit Baum und Geschenken auszurichten. Diese Ge- schenke waren in der Vergangenheit eher handfest, etwa in Form von Stoffen. So schmunzelte man im Oberbaselbiet des Öfteren, wenn alle Rickenbacher Mädchen nach Weihnachten mit Röcken aus dem gleichen Stoff daherkamen.
Praktisch alles, was Handschin in seinen vermögenden letzten Lebensjahren finanziell förderte, war das, was er selbst in seiner Kindheit und Jugend im Rickenbach so dringend gebraucht hätte: menschliche Wärme, Hilfe in der Armut und eine gute Schulbildung. Bis heute ist es Aufgabe seiner Stiftungen, junge Talente mit geringen finanziellen Mitteln zu fördern.
Obwohl ihn sein eigener Lebensweg hart, unnahbar und verschlossen gemacht hatte, schien Handschin am Ende seines Lebens begriffen zu haben, wo gesellschaftlich angesetzt werden musste, damit sich wirkliche Chancengleichheit realisieren lässt. Viel mehr als sein prunkvolles Grabmahl auf dem Friedhof in Gelterkinden sollten uns diese Einsichten Heinrich Handschins bewegen, wenn wir heute die Schulhausglocke von Rickenbach hören, die es ohne ihn – den verlorenen Sohn aus Moskau – nie gegeben hätte.
Marco Geu, Basel
* Mit diesem Beitrag endet die Serie.