Das Geschenk des «Weihnachtsbaum-Tarzans»

  19.12.2024 Bezirk Sissach, Gesellschaft, Itingen

22 Jahre nach seinem Tod wirft die Adventstanne am Itinger Waldrand ihr Licht auf Quinto Bazzocco: Der langjährige, bärbeissige Schulhausabwart schenkte dem Dorf die Baumbeleuchtung als Privatmann auf eigene Initiative. Eine Weihnachtsgeschichte.

Peter Sennhauser

Am Waldrand beim Itinger Schützenhaus steht anstelle einer einst mächtigen solitären Tanne nur noch ein Stumpf. Jemand hat in den letzten Tagen des Baums ein Trauerband um seinen Stamm gewunden und ein Gedenklicht aufgestellt. Ein kurzes Gedicht ehrt den stattlichen Baum, der wegen Borkenkäferbefalls gefällt werden musste. Er hatte 56 Jahre lang in der Weihnachtszeit hoch über dem Dorf geleuchtet. Was viele nicht wissen: Die Itinger Weihnachtstanne, von weit her im ganzen Ergolztal sichtbar, war das Geschenk eines einzelnen Mannes.

«Schau, das hat Vati gemacht!», habe ihre Mutter gerufen und zum Waldrand hoch gezeigt: 20 Jahre alt war Annemarie Bazzocco im Advent 1968, als oben beim Schützenhaus erstmals der grosse Christbaum erstrahlte. In den Novemberwochen zuvor hatten Annemarie und ihre Mutter nur mitbekommen, dass der Vater Abend für Abend mit einem Freund aus Lausen in der Abwartsgarage werkelte.

Von Ast zu Ast den Baum hoch
Als er an diesem Abend gehörig zerkratzt nach Hause kam, löste sich das Rätsel: Schulhausabwart Quinto Bazzocco, 57 Jahre alt, hatte dutzende Meter wetterfesten Kabels mit Glühlampen ausgestattet. Um die schwere Lichterkette in den schon damals 15 bis 20 Meter hohen Baum hochzuhieven, war er von Ast zu Ast in den Wipfel hochgeklettert und hatte das Kabel in langen Bögen um den Baum drapiert. Als einzige Mitwisserin hatte er die Waldbesitzerin eingeweiht, die ihm ausdrücklich erlaubte, den Baum zu schmücken. Am Fuss der Tanne brachte er ein Kässeli an, um die Stromkosten decken zu können. Aber die Elektra Itingen sollte ihm die Rechnung erlassen.

Fortan kletterte Quinto Bazzocco jedes Jahr zur Adventszeit auf «seine» Tanne, um die Lichterkette anzubringen, was ihm den Spitznamen «Weihnachtsbaum-Tarzan» einbrachte. Nach seiner Pensionierung übernahm die Elektra Itingen die Aufgabe, und sie spendierte dem Baum schliesslich eine moderne LED-Lichterkette. Bazzocco wird in der Itinger Heimatkunde explizit als Initiator der Weihnachtstanne gewürdigt. Dabei war dies nicht die einzige derartige Aktion des Quinto Bazzocco, aber – wie sich jetzt zeigt – die nachhaltigste. Denn für den Weihnachtsbaum, so hat es der Gemeinderat inzwischen aufgrund der zahlreichen Reaktionen beschlossen, soll zum nächsten Jahr ein Ersatz gefunden werden.

Für mich wie alle andern, die in den 1960er- und 1970er-Jahren in Itingen aufgewachsen sind, ist «der Bazzocco» ein Begriff – wir hatten einen Heidenrespekt vor ihm: Wenn der Schulhausabwart mit seinem mächtigen Stimmorgan lospolterte, weil eines der Kinder nach der Pause seine Stiefel im Schulhauseingang nicht mit den kleinen Besen vom Schnee befreit hatte. Oder wenn der Mann mit dem flammenden Blick und dem bisweilen wirr vom Kopf abstehenden grauen Haar auf dem Pausenplatz zwei Streithähne trennen musste.

Ramlinsburger statt Itinger
Vielleicht hat er sein «Image» ja auch bewusst gepflegt. Bestimmt war es so einfacher, die freche Kinderschar im Dorfschulhaus unter Kontrolle zu behalten. Denn eigentlich war der bärbeissige Quinto Bazzocco ein herzensguter Mensch, dem eine Metzgerlehre einst verwehrt geblieben war, weil er keinem Lebewesen ein Haar krümmen konnte. Man musste nicht mehr tun, als ihm mit Anstand zu begegnen, um in sein Herz geschlossen zu werden. Denn Anstand und Respekt hatte er selbst in seiner ersten Lebenshälfte wenig erfahren.

Elf Jahre alt war Quinto Bazzocco, als er 1922 von seinem Vater zusammen mit Mutter und sechs Geschwistern aus dem venetischen Dörflein Artén in die ferne Schweiz geholt wurde. Deutsch war kaum zu bewältigen für den Knaben, der Lernschwierigkeiten hatte, und das Schimpfwort «Tschingg» hat Quinto zu oft gehört.

Weil es in der Schule gar nicht ging, kam der Bub in einiger Distanz zu den Geschwistern und Eltern in Ormalingen bei einer Familie unter. Hier sollte er auch besagte Metzgerlehre antreten. Neben seinem Feingefühl kam ihm dabei aber wohl nicht zum letzten Mal die Sprachbarriere in die Quere. Zu mehr als einer Anlehre als Maurer reichte es nicht. Mit Stellen in Pratteln bei der Buss und in Sissach bei der Cleis AG lebte Quinto lange Jahre bei den Eltern in Itingen. Als er sich dort mit zwei seiner Brüder, Luigi und Vincenzo, 1937 einbürgern lassen wollte, winkte die Gemeinde ab: Man wolle sie nicht, wurde deutlich signalisiert.

Durch persönliche Beziehungen ergab sich eine Verbindung nach Ramlinsburg; dort erklärte man sich bereit, den dreien das Bürgerrecht zu erteilen: Gegen einen entsprechenden Betrag. Quinto, der seinen ganzen Verdienst nach wie vor den Eltern ablieferte, hatte die für den roten Pass nötigen Mittel nicht. Nur mit der Unterstützung seines Schwiegervaters Johann Heiz konnte er sich das Schweizer Bürgerrecht erwerben. In den Kriegsjahren wurde er für den «HD» eingezogen und leistete Dienst in der Festung Sargans. Im Jahr 1941 heiratete Quinto die Itingerin Lina Heiz, und das Paar bezog eine der beiden Wohnungen im Schulhaus. Den Abwartsposten hatte aber nicht etwa Quinto inne – der Gemeinderat hatte den Eheleuten nahegelegt, Lina für den Posten zu nominieren. Erst mit dem raschen Wachstum des Dorfs und dem Bau einer Turnhalle für die Schule erklärte man sich später bereit, Quinto zum vollamtlichen Abwart zu wählen.

Die vielen Ungerechtigkeiten haben zweifellos dazu beigetragen, dass Quinto gelegentlich zur Flasche griff. Er sei nie handgreiflich geworden, erinnert sich Tochter Annemarie, deren fünf Jahre älterer Bruder Kurt bereits ausgezogen war; aber es sei zu hässlichen Streitereien zwischen den Eltern gekommen. Am Tag danach habe ihre Mutter dem nüchternen Quinto jeweils «d’Chuttle putzt». Der Vater habe sich geschämt und unter den Umständen gelitten. Wohl deswegen nahm er die unverbindlichen Kontaktversuche des Blauen Kreuzes aus Sissach ohne langes Leugnen an: Die Einladung zur «Besinnungswoche» in Scuol habe er als Gratisferien akzeptiert. Noch während dieser Woche habe er angerufen: «Ich habe unterschrieben. Ich trinke keinen Alkohol mehr.»

Eine Nussschnecke für jedes Kind
Das habe alles verändert für die Familie, sagt Annemarie. Quinto habe im Blauen Kreuz Freunde fürs Leben gefunden; seinen Mentor Sämi Mäder bezeichnete er als «meinen Vater, obwohl er jünger ist als ich», und als Fähnrich engagierte er sich bei der Blaukreuzmusik Känerkinden. Die Religion war ihm wichtig, ihm, der vor der Heirat einst vom Katholizismus konvertiert war, nachdem ihm Pfarrer Andreas Pitschen erklärt hatte, bei den Reformierten sei eigentlich «alles gleich, nur viel einfacher.»

Überhaupt kam in den Jahren nach seiner Läuterung die menschenfreundliche Seite Quintos immer mehr zur Geltung – auch wenn er uns Schulkindern den Brummbär vorspielte. Mit Freude schmückte er die Itinger Turnhalle zum Adventsgottesdienst und sorgte auch mit dem einzigen Stern über der Itinger Dorfstrasse für ein Pendant zum Baum am Waldrand.

Zu seiner Pensionierung veranstaltete die Primarschule Itingen einen Schüler-Gedichtwettbewerb und eine Feier in der Turnhalle, die ihn zu Tränen rührte. Bazzocco revanchierte sich angemessen: Er hatte bei der Dorfbäckerei Stoos für jedes Kind eine Nussschnecke bestellt. Den Ruhestand verbrachten Bazzoccos in Itingen. «Primarlehrer Jost sorgte dafür, dass Pfarrer Preiswerk bei Vatis Beerdigung die Geschichte vom Weihnachtsbaum-Tarzan erwähnte», erinnert sich Annemarie Brönnimann-Bazzocco an den Abschied 2002. «Das war das erste Mal, dass ich den Begriff gehört habe.»

Dass weitere 22 Jahre später ihr unbekannte Menschen um den gefällten Baum am Waldrand trauerten, das sei für sie das schönste Weihnachtsgeschenk, sagt die Tochter des Abwarts. Es zeige, dass Quinto die Menschen unwissentlich über sein eigenes Leben hinaus zu berühren vermag.


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