Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd
07.11.2024 Bezirk Liestal, Baselbiet, Gemeinden, KulturAnlässlich ihres 25. Todestags widmet das «Distl – Dichter:innenund Stadtmuseum Liestal» der Baselbieter Schriftstellerin Helene Bossert (1907–1999) eine umfassende Ausstellung. Zugleich erscheint eine neue Publikation mit Beiträgen von Historikerinnen und Historikern auf der Grundlage von Bosserts Nachlass. Teil 1 unserer dreiteiligen Serie.
Rea Köppel
Der Name Helene Bossert ist vor allem im oberen Baselbiet sehr bekannt. Wer ihre Lebensgeschichte jedoch zum ersten Mal hört, staunt darüber, wie schnell ein unbescholtener Mensch in die unbarmherzigen Mühlen der Weltpolitik geraten kann – und wie stark diese Frau war, die sich immer wieder schwierigen Umständen stellte und sie überstand.
In dieser dreiteiligen Artikelserie wird Bosserts steiler Aufstieg zur Mundartdichterin und Radiomoderatorin, ihre verhängnisvolle Reise in die ehemalige Sowjetunion im Jahr 1953, ihre Ächtung als vermeintliche Kommunistin und die unvollständige Rehabilitation nachgezeichnet. Grundlage dafür, wie auch für die neue Ausstellung «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd» im «Distl – Dichter:- innen- und Stadtmuseum Liestal» und für die gleichnamige Publikation, die in diesen Tagen im Verlag Baselland erscheint, ist Bosserts umfangreicher Nachlass. Seit 2022 liegt dieser im Staatsarchiv Basel-Landschaft und ermöglicht unzählige neue Erkenntnisse über das Leben, das Werk und das Denken einer der faszinierendsten Baselbieter Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Von der talentierten Schülerin zur Arbeiterin
Als Helene Bossert 1907 in Zunzgen geboren wurde, deutete noch nichts darauf hin, dass ihr Name einmal die Zeit überdauern würde. Ihre Eltern Walter und Elise Bossert-Schneider hatten als Wegmacher und Posamenterin sowie mit einem Kleinbauernbetrieb ein bescheidenes Auskommen. Die Kinder mussten früh mithelfen und Helene durfte trotz ihrer Intelligenz und der Fürsprache ihres Lehrers nur die (damals acht Jahre dauernde) Primarschule besuchen. Sie war schliesslich ein Mädchen, von dem erwartet wurde, den Knaben den Vortritt zu lassen, zu heiraten und den Haushalt zu machen, während andere die Welt eroberten – eine Tatsache, die Bossert später in Gedichten wie «Pfyffe» oder «Düpft» kritisierte.
Nach der Schulzeit half sie bei der Posamenterei aus, arbeitete kurz in der Sissacher Filiale der Florettseidenspinnerei Ringwald und dann in einem kleinen Zulieferbetrieb für die Uhrenindustrie, der von Verwandten mütterlicherseits geführt wurde. Die Arbeiterinnenexistenz sagte ihr überhaupt nicht zu, prägte sie jedoch zeitlebens: In vielen ihrer Texte treten einfache Menschen auf, die harte Arbeit für kargen Lohn verrichten und denen, wie die Autorin impliziert, ein besseres Los zustehen würde. Wer sich mit Bosserts Gedichten und Erzählungen beschäftigt, merkt schnell, dass das ihr bevorzugter Tonfall ist: Forsche Forderungen bringt sie nur sehr selten an, doch lässt man sich auf ihre scheinbar alltäglichen Geschichten über menschliches Verhalten und die Natur ein, findet man eins ums andere Mal eine tiefere Ebene, sei sie nun sozialkritisch, politisch oder psychologisch.
Von der Arbeiterin zur Radiomoderatorin
Erst als Helene Bossert eine Stelle als Haushaltshilfe in einem reichen Basler Haushalt (und später in einem ähnlichen zweiten) fand, hatte sie Musse, sich neben der Arbeit um ihre eigene Entwicklung zu kümmern. Schon als Kind hatte sie gerne gelesen; jetzt verschlang sie alles Geschriebene, das ihr in die Finger kam, und begann selbst zu schreiben. Ihr war stets klar, dass sie sich auf ihre eigene Kraft verlassen musste, wenn sie sich ein anderes Leben erschaffen wollte als dasjenige, in das sie hineingeboren worden war.
Sie nahm Unterricht bei der Basler Logopädin Eva Bernoulli und entdeckte so nicht nur die Welt des Schauspiels und der Rezitation für sich, sondern fand auch ihre grösste Begabung: Ihre Bühnenpräsenz und Stimme schlugen das Publikum in ihren Bann. Neben ihrem eindrücklichen, ausgeprägten Oberbaselbieter Dialekt erlernte sie ein klares Hochdeutsch und setzte alles daran, das Sprechen und Auftreten zu ihrem Beruf zu machen.
Ein Gesangsauftritt mit dem «Töchterchor» im Radiostudio Basel im Jahr 1934 hatte Helene Bossert einen Blick hinter die Kulissen des neuen Massenmediums Radio gewährt, für das sie sich jetzt aktiv bewarb. Am Radio aufzutreten war ein gangbarer Weg für Frauen mit literarischem Talent, um überregionale Bekanntheit zu erlangen und im Idealfall gar mit dem Vorlesen und Schreiben von Texten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zuerst las Bossert ausschliesslich Texte anderer Autorinnen und Autoren, doch schon bald konnte sie in einer Sendung eines ihrer eigenen Gedichte unterbringen.
1939 versuchte sie einen noch gewagteren Karriereschritt: Sie sprach bei Oskar Wälterlin, dem berühmten Direktor des Zürcher Schauspielhauses, als Nachwuchsschauspielerin vor und erhielt eine sehr positive Einschätzung ihres Talents. Allerdings wurde ihr erklärt, sie müsste noch die Schauspielschule besuchen, was ihre finanziellen Möglichkeiten überstieg. Doch blieb Wälterlin ihr gewogen – sein Lebenspartner Wilfried Scheitlin wurde später Pate von Bosserts Sohn. 1940 erhielt Bossert gar eine Nebenrolle in Wälterlins Spielfilm «De achti Schwyzer», der dann allerdings von der Zensur verboten wurde.
Von der Soldatenmutter zur Schriftstellerin
Der Zweite Weltkrieg unterbrach alle Pläne, die Bossert gewälzt hatte. Doch wie es ihr entsprach, passte sie sich an und suchte nach einer neuen sinnvollen Beschäftigung. Ab 1940 konnten sich Frauen für den militärischen Frauenhilfsdienst (FHD) bewerben und dort Tätigkeiten wie Kurierdienste, Arbeiten in der Verwaltung, der Küche und der Wäscherei übernehmen. Helene Bossert leistete Dienst als «Soldatenmutter» in acht verschiedenen «Soldatenstuben» im Schwarzbubenland, Baselbiet und Fricktal.
In diesen Lokalen, gegründet als Alternative zum Wirtshaus für die Soldaten im Aktivdienst, wurden günstige, gesunde und vor allem alkoholfreie Kost sowie ein Unterhaltungsund Bildungsangebot mit Zeitungen, Zeitschriften, Radio und geselligen Zusammenkünften geboten. Als Soldatenmutter gewann Bossert Führungserfahrung, knüpfte neue Bekanntschaften und konnte die gewonnenen Eindrücke für Sendungen am Radio in der Rubrik «Für unsere Soldaten» nutzen. Und nicht zuletzt lernte sie 1943 in der Soldatenstube Sissach ihren späteren Ehemann Ulrich Fausch kennen.
Ihren ersten Gedichtband «Blüemli am Wäg», illustriert von Otto Plattner, gab Bossert 1942 im Selbstverlag heraus, aber mit einem kantonalen Finanzierungsbeitrag und einem Vorwort des Regierungsrats Walter Hilfiker, den sie in einer Soldatenstube kennengelernt hatte. In der Gedichtsammlung werden vordergründig verschiedene Blumen beschrieben – doch beim Lesen wird sofort klar, dass es hier auch um Menschen geht. Die Autorin mahnt ihre Leserschaft, nicht achtlos an unauffälligen oder randständigen Menschen vorbeizugehen, die wie bescheidene Wildblumen am Weg stehen und oft als Unkraut gelten. Der Historiker Ruedi Brassel erkennt im neuen Band «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd» eine politische Dimension dieser Blumengedichte, die jedoch nicht «aus einer unmittelbaren Stellungnahme, aus der Positionierung in einer tagesaktuellen Debatte, sondern aus dem selbstkritischen Hinterfragen von Denkmustern und Gewohnheiten» entsteht.
Von der erfolgreichen Autorin zur Ausgestossenen
«Blüemli am Wäg» erlebte vier Auflagen. Helene Bossert hielt Lesungen in der ganzen Region und schrieb erfolgreich Beiträge für die «Baselbieter Heimatbücher», die regionalen Zeitungen und Zeitschriften wie den «Nebelspalter». Am Radio konnte sie ebenfalls verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen: Sie übertrug etwa das Theaterstück «In our town» des damals hochaktuellen US-amerikanischen Autors Thornton Wilder in ein Mundarthörspiel. Bosserts Fassung unter dem Titel «Euses Stedtli» spielt in Liestal und wurde am 17. Februar 1946 erstmals am Radio ausgestrahlt.
Helene Bosserts Bilderbuchkarriere aus eigener Kraft schien damit auf gutem Weg. Und auch privat hatte sie ihr Glück gefunden: 1944 heiratete sie den gewerkschaftlich aktiven Festungswächter Ulrich Fausch und 1945 wurde ihr Sohn Johann Ulrich (Hansueli) geboren. Die junge Familie baute sich ein kleines Haus am Bützenenweg 76 in Sissach, in das sie 1948 einzog. Helene Bossert war in der Nachbarschaft gut gelitten, im Radiostudio Basel eine zwar freie, aber regelmässig beschäftigte Mitarbeiterin und unter ihren Kolleginnen und Kollegen der regionalen Literaturszene beliebt. Nichts deutete darauf hin, dass sie wenige Jahre später auf einen Schlag zu einer Ausgestossenen werden sollte.
Im Hintergrund hatten sich jedoch die politischen Rahmenbedingungen geändert und es waren Kräfte in Gang gesetzt worden, die Helene Bosserts Leben gründlich aus den Bahnen heben sollten. Die Blockbildung der Welt zwischen West und Ost, Kapitalismus und Kommunismus, die zum Kalten Krieg führte, durchdrang auch das Baselbiet. Ereignisse wie die kommunistische Machtergreifung in der Tschechoslowakei 1948 befeuerten Ängste, die sich zuweilen zu einer wahren Kommunisten-Paranoia steigerten.
Der Kampf gegen den Kommunismus wurde vom Staatsschutz aktiv geführt; man legte nicht nur «Fichen» über verdächtige Personen an, sondern intervenierte etwa auch, um politisch unliebsame Protagonisten aus wichtigen Ämtern zu heben. Ein wichtiges Merkmal des Kalten Kriegs war, dass die Gefahr nicht nur als militärische Bedrohung von aussen, sondern auch als subversive Unterwanderung im Inneren vermutet wurde – folglich richtete sich die volle Wucht der Staatsmacht auch gegen Schweizerinnen und Schweizer, die lange als unbescholtene Bürgerinnen und Bürger gegolten hatten.
Die Reise in die Sowjetunion, die Helene Bossert zum Verhängnis wurde, und die Auswirkungen der Hetzjagd gegen sie werden in den zwei nächsten Folgen dieser Serie erzählt. Bereits ab übermorgen Samstag können Sie die Ausstellung im «Distl» besuchen und die Publikation über Helene Bossert mit zehn Forschungsbeiträgen anhand ihres Nachlasses erwerben.
Rea Köppel, die Autorin dieses Beitrags, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des «Distl – Dichter:innen- und Stadtmuseum Liestal» und Mitherausgeberin der Publikation «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd». Lesen Sie in der «Volksstimme» von morgen Freitag: Die verhängnisvolle Reise in die Sowjetunion.
Ausstellung und neue Publikation
vs. Sonderausstellung «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd»: Die Vernissage findet morgen Freitag, 8. November, um 18 Uhr im «Distl – Dichter:- innen- und Stadtmuseum Liestal» statt; die Schauspielerin Regula Grauwiller liest einige Gedichte Bosserts.
Der Eintritt ist frei, es wird ein Apéro serviert. Laufzeit der Ausstellung: Vom 9. November 2024 bis zum 17. August kommenden Jahres. Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag, 10 bis 18 Uhr, Samstag 9 bis 16 Uhr, Sonntag 10 bis 15 Uhr (Montag geschlossen).
Die Publikation «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd», herausgegeben von Stefan Hess und Rea Köppel, erscheint im Verlag Baselland. Ab 9. November ist sie im Distl, beim Verlag Baselland oder im Buchhandel erhältlich.