Eine Zugfahrt, die ist lustig …

Vergangenen Herbst war es wieder so weit: Wie ein Käfer falle ich aus meinem Wohnmobil und höre, wie es knackt. Erneut Knöchelbruch links. Ich weiss nicht, was in diesem Moment schlimmer war, der Schmerz oder die Erkenntnis, dass ich für mindestens sechs Wochen alle Reisepläne vergessen konnte. Unter anderem eine lang erwartete Woche mit meinen Freundinnen auf Usedom.

«Ich fahr trotzdem. Die Kupplung bedienen geht prima», sage ich trotzig zu meinen Töchtern. Sie versuchen, mir das Vorhaben auszureden. Dabei fallen Bemerkungen wie: «Saublöde Idee!» «Risiko für die Menschheit!» «Anfall von Alterssturheit!» «Reif für die Klapse!» Kann so viel Tugend und Verantwortungsbewusstsein wirklich meinem Erbgut entsprungen sein?

Damit Ruhe ist, willige ich ein, mit dem Zug zu fahren. Die Gehstöcke und der Spezialschuh sollen auch mit. Dieses Arrangement bedingt, dass ich alles, was ich für die Woche brauche, in einem Rucksack trage. Es werden 15 Kilo. Davon 1 Kilo Schokolade für meine Berliner Freundinnen. Bei der ersten Anprobe meiner Ausrüstung falle ich hintenüber.

Ich fahre nachts. Da ist auf dem Streckennetz der DB nicht so viel los und es kann nichts schiefgehen. Natürlich hat unser ICE bereits vor Frankfurt Verspätung. Mir bleiben vier Minuten Umsteigezeit. Keuchend humple ich den Perron entlang. Andere Passagiere sprinten an mir vorbei. Am Bahnsteig 18 angekommen, ist der ICE nach Berlin bereits abgefahren, pünktlich auf die Minute, wie es scheint. Es ist zwei Uhr nachts. Der nächste Zug fährt um fünf Uhr. Die Bahnhofshalle ist eiskalt und es zieht. Alle Sitzgelegenheiten sind von Obdachlosen und Alkoholikern in verschiedenen Stadien des Deliriums besetzt.

Berührungsängste kann ich mir in dieser Situation nicht erlauben, mein Fuss schmerzt. Also setze ich mich dazu. In den nächsten drei Stunden rülpst es von rechts öfters in meinen Kragen. Und mein Gegenüber stiert mich mit hängendem Kopf, glasigen Augen und offenem Mund an, während sich ein Speicheltropfen auf seine fleckige Hose abseilt. Drei Stunden waren nie länger.

Halberfroren steige ich um fünf Uhr in den Zug nach Berlin. Doch wir kommen nicht weit. In Göttingen geht es nicht mehr vorwärts. «Wegen Klopfgeräuschen in Wagen elf bleiben wir hier auf unbestimmte Zeit stehen», heisst es. Die DB hat es neuerdings also auch mit Poltergeistern zu tun. Auf dem Gleis nebenan fährt ein anderer Schnellzug nach Berlin ein. Mühsam zwänge ich mich wieder in meine Ausrüstung, steige um und falle stöhnend, mit schmerzendem Fuss und von Schlafmangel geröteten Augen auf den Sitz. In diesem Augenblick schliessen sich gegenüber die Türen und der ICE, den ich eben verlassen habe, rauscht ab.

Am liebsten hätte ich jetzt meinerseits Klopfgeräusche produziert und meinen Kopf gegen die Fensterscheibe geschlagen. Aber ausser einem Fettfleck und einer Beule wäre dabei nichts rumgekommen. Also tue ich das Nächstbeste: Ich grabe das Kilo Schokolade aus meinem Gepäck und futtere mich in den kommenden Stunden ins Zuckerdelirium.

Yvonne Zollinger ist ehemalige «Volksstimme»- Redaktorin und lebt in ihrem Wohnmobil.

HERZBLUT

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