Zukunft braucht Herkunft!

Zukunft ist wie ein grosses, leeres Papier, die Vergangenheit hingegen ein dickes, vollgeschriebenes Buch. Über die ungelebte Zukunft ist deshalb leichter – in positiver oder negativer Erwartung – zu reden als über Vergangenes. Wer hingegen Geschichte verstehen möchte, muss über sie kritisch lesen und vieles lernen. Geschichte benötigt in jeder Gegenwart ihren angemessenen Platz. Das gilt für ein Volk wie für jede Familie und einzelne Person.

Ein Leben nur in der Vergangenheit, wie das manche Ewiggestrige oder Nostalgikerinnen pflegen, ist sinn- und perspektivlos. Schon Friedrich Nietzsche hat 1874 davor gewarnt, dass zu viel Vergangenheit in der Gegenwart das Leben lähmt. Kaum etwas war früher besser, wenn man genau hinblickt: weniger Freiheit, weniger Bildung, weniger Wohlstand, weniger technische Errungenschaften, weniger Lebensjahre. Vielleicht aber auch weniger Stress und Dichtestress?

In unserer Zeit ist eher das Gegenteil der Fall: Wohlstandsverwöhnte Menschen vergessen, verdrängen, negieren gern ihre persönliche und unsere gemeinsame Geschichte sowie (historischen) Wurzeln. Sie leben mit aufgeblasener Selbstverständlichkeit in einem überbewerteten Jetzt. Für jedes allfällig aktuelle Problem sollen «die da oben», Allgemeinheit und Staat, helfen oder zahlen. Man kann es ihnen nicht verübeln. Sie kennen es nicht anders. Leiden und Leistungen der Mütter und Väter, Grosseltern, der Ahnen interessieren sie wenig.

Wachsende Geschichtsvergessenheit in unserer Gesellschaft macht mir Sorgen. «Man muss rückwärts blicken, um vorwärts zu kommen!», sagte schon General Guisan. Zukunft braucht Herkunft.

2024 war das Erschrecken der Öffentlichkeit über das Aufpoppen von Antisemitismus mit dem Krieg in Gaza gross – in Sissach weniger ein Thema als in Städten wie Basel oder Zürich. Was dachten und hofften wir, hätte die Menschheit nach 1945 begriffen und verinnerlicht.

Jüdische Menschen unter uns sind genauso wenig verantwortlich für das Handeln israelischer Regierungen wie schweizerische Auswanderer in Südamerika für das Tun oder Lassen unserer Damen und Herren Bundesratsmitglieder. Unseren geschichtsvergessenen Miteidgenossen und auch muslimisch geprägten Zugezogenen in der Schweiz muss das in aller Deutlichkeit und Schärfe vermittelt werden. Antisemitismus ist, wie gemeiner Fremdenhass, Bankrotterklärung jeder aufgeklärten Gesellschaft und Rückfall in Barbarei und Mittelalter.

Vor uns liegen die Weihnachtstage, ein grosses, aber für manche zunehmend sinnentleertes, kommerzialisiertes Fest. In welchen Häusern und Familien wird noch Weihnachten gefeiert, mit Tannenbaum, dem Anstimmen der alten Lieder, dem Vorlesen von «Lukas 2» (dort fänden Sie die Weihnachtsgeschichte)? Traditionsabbruch ist ein Teil von Geschichtsvergessenheit.

Zukunft braucht Herkunft – und Bewusstsein für die Werte von Tradition! Ich wünsche Ihnen allen gesegnete Weihnachten, so oder so.

Matthias Plattner wurde 1962 geboren und ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Böckten-Diepflingen-Itingen-Thürnen.

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