Godzilla junior

Irgendwie war es mir nicht recht, das alles kaputt zu machen. Immerhin lag vor mir wohl das Werk von mehr als einem Jahr. Dutzende hatten daran mitgearbeitet. Und ich würde das alles einfach abreissen?

Gestartet war ich nur mit den besten Absichten. Ich hatte mich gar zu dieser Aktion aufgerafft, war gut ausgerüstet angereist. Aber nun kamen mir Zweifel. Sollte ich etwa so rücksichtslos vorgehen wie mein Sohn?

Er spielt gerne mit den bekannten Kapla-Hölzchen. Ein tolles, simples, natürliches Spielzeug, mit dem man bei entsprechendem Feingefühl, Willen und architektonischem Fachwissen beeindruckende Bauwerke schaffen kann. Nun passen bei meinem Sohn aber fast alle Worte des obigen Satzes nicht. Er ist anderthalb Jahre alt, Feingefühl, Wille und Fachwissen sind also per se nicht zu erwarten. Aber auch «spielen» und «bauen» treffen nicht wirklich das, was er mit den Hölzchen macht. Er reisst ab. Er zerstört. Er macht alles dem Erdboden gleich.

Unser Junior legt eine gewisse Geduld an den Tag, während er mir zusieht, wie ich etwas aufbaue – selbstredend alles immer unglaublich hübsch und zugleich (aus Erfahrung) statisch ausgeklügelt, ohne Netz zwar, aber mit doppeltem Boden. Von meinem Baumeister-Genie wird aber nie jemand erfahren, weil mein Sohn dann zur Tat schreitet.

Mit Verve wirft er um, was ich in mühseliger Kleinarbeit aufgebaut habe. Seit ich etwas stabiler baue, reicht es nicht mehr, einfach oben drauf zu hauen oder etwas umzustossen. Ein paar Säulen und Zwischenböden bleiben da immer noch stehen. Doch in diesen Situationen hat der Kleine die Ausdauer, die ihm sonst manchmal fehlt. Jede Stabilisierungs-Säule wird energisch umgeworfen, bis auch das letzte Hölzchen, das auf einer dünnen Seite gestanden hat, flach am Boden liegt. Dagegen sind Godzillas Märsche durch Tokio ein Kindergeburtstag. Dort bleiben Ruinen zurück. Wenn mein Sohn fertig ist, ist alles platt.

Und so wollte ich jetzt auch wüten? Ich dachte daran, wie ich mich fühle, wenn ich wieder einmal besonders stolz auf eine neue Konstruktion bin – und mein Sohn dann mit hochgezogenen Mundwinkeln und ausladenden Armbewegungen losmarschiert. Mit durchschlagendem oder eben niederschmetterndem Erfolg. Vor mir lagen jetzt schliesslich auch ausgeklügelte Konstruktionen, beeindruckende Gebilde aus Material, dessen geringes Gewicht und ausgeprägte Elastizität bei zugleich grosser Stabilität jedem Architekten die Tränen in die Augen treiben. Sollte ich umkehren? Wie würde ich mich denn fühlen, wenn ich in meinen Kapla-Türmchen wohnen wollte und ein Riese alles zerstört, ohne mit der Wimper zu zucken?

Aber nach mehr als einem Jahr musste wieder einmal Staub gesaugt werden im Keller. Und die Spinnweben mussten weg.

Sebastian Wirz, Sportredaktor «Volksstimme»

HERZBLUT

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