Just in time

Der Begriff «just in time» – zur rechten Zeit – bezeichnet eine Strategie innerhalb der Produktion eines Unternehmens, bei der Materialien genau in dem Zeitpunkt angeliefert werden, wenn sie auch benötigt werden. In keinem Fall jedoch eine Minute zu früh oder sieben Wochen zu spät.

Nach Corona und anderen Krisen hat sich die Schweizer Industrie perfekt nach diesem Prinzip ausgerichtet. Eine Salbe wird angerührt, wenn sie jemand benötigt. Eine Tablette wird erst dann produziert, wenn Not am Mann ist. Das kann der Fall sein, wenn irgendwo ein Bein schmerzt oder ein Zipperlein ganz gewaltig nervt. Genau jetzt, und in keinem Fall vorher, bestellt die Schweizer Firma in Guangzhou, China, den Wirkstoff, in Sihanoukville, Kambodscha, die Flasche, in Da Nang, Vietnam, den Dosierspray und in Bialoystok, Polen, die Verpackung.

Jeder vernünftige Mensch wird verstehen, dass die Transporte in die Schweiz eine Weile dauern werden. Vielleicht bleibt das Containerschiff im Suezkanal stecken, vielleicht wird ein anderes vor der Küste Afrikas gekapert. Noch wissen wir deshalb nicht, ob der Patient bis zur Ankunft der Medikamente schon in eine Schmerzklinik verlegt wurde oder bereits die Welt verlassen hat.

Doch nicht nur die Pharmaindustrie produziert lediglich noch «just in time», auch die Gastronomie schwört offensichtlich auf die neue Strategie. Letzthin in den sanften Hügeln der Nordwestschweiz: Die Weinkarte war in feinstes Kalbsleder gebunden und ein güldener Bacchus versprach höchstes Trinkvergnügen. Tausende von «sorgfältig ausgesuchten Tropfen» warteten nur darauf, meine dürstende Kehle zu entzücken. Noch ahnte ich nichts vom Grauen der einbrechenden Nacht, entschied mich für einen leichten Roten und lief damit direkt in die gestellte Falle: «Leider ausverkauft!»

Als erfahrener Gast hatte ich natürlich bereits eine Alternative vorgesehen und so bestellte ich – immer noch lächelnd – den schweren Roten. Ich hätte es besser nicht getan! «Leider ausgegangen!»

Inzwischen etwas vorsichtiger geworden, verlegte ich mich auf das Zufallsprinzip. Ich lächelte nicht mehr, als ich mir mit geschlossenen Augen einen mittelschweren Roten ertippte.

Der im Trunke ergraute Sommelier zog seine linke Augenbraue in die Höhe und erstarrte zur Sprechblase. Bevor eine weitere Worthülse seine geschürzten Lippen verlassen konnte, ergab ich mich, warf sinnbildlich das Handtuch und überliess die weitere Getränkeauswahl dem befrackten Herrscher über tausend Weine.

Als ich mich umdrehte, sah ich, wie sich im Fenster ein dunkler Schatten spiegelte. Gebückt, in Eile und mit Schlapphut schlich sich eine befrackte Gestalt durch den unordentlichen Vorgarten zum benachbarten Gasthof.

Böses ahnend versteckte ich mich konspirativ unter den tief hängenden Zweigen einer Trauerweide und wartete ab.

Da! Da war er wieder, der schwarze Schatten. Mit zwei Flaschen Rotwein in der linken Hand turnte er über die Feuerleiter zurück in die Gaststube. Als der Kellner an unsern Tisch trat, flatterten seine Frackspitzen immer noch.

Der Autor, Kolumnist Hanspeter Gsell, lebt seit mehr als 40 Jahren in Sissach.

MEINE WELT

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