Die ABC-Diktatur

Wunder nehme ihn noch etwas, sagt Doktor Weber, nachdem er den Jüngling von damals wegen eines blossen Hautausschlags über den auffällig geröteten Arm befragt hat: «Wer hat mich empfohlen?» Die Antwort, das Telefonbuch, lässt ihn noch mehr rätseln. Ich hätte der Versuchung widerstanden, gleich den ersten aufgeführten Dermatologen anzurufen, sondern die lange Liste der Spezialisten im dicken Telefonbuch, wie es damals in jedem Haushalt an prominenter Stelle lag, von hinten betrachtet. «Das gab den Ausschlag», kalauere ich erfolglos.

Diese Episode fiel mir kürzlich wieder ein, als sich eine Frau in der Hotellobby darüber aufregte, dass sie ihr Zimmer noch nicht beziehen kann. Schuld daran sei neben all den untauglichen Angestellten das Alphabet, wetterte sie weiter, obwohl sie mit einem Nachnamen aus dem alphabetischen Mittelstand gesegnet ist. Tatsächlich legen sich nicht grundlos viele Taxi-Unternehmen Namen wie AA-Taxi oder ABC-Taxi zu und überlassen «ZZ Top» den Rockbands. Rekrut Zwyssig Adrian wartet noch immer auf seinen Sold, während Rekrut Ambühl Xaver seinen bereits versoffen hat.

Kürzlich wurde ein Regierungsrats-Podium in Basel beworben und dabei alle elf Kandidierenden nach dem ABC abgebildet. Kaspar Sutter kommt deshalb am Schluss; noch hinter Herausforderer Stephan Suter, weil dieser seinen Nachnamen ohne Doppelkonsonanten schreibt. Gibt es kein anderes Kriterium, etwa das Alter, das Amtsalter oder, noch einfacher, das Los? Das ABC hilft uns jeden Tag beim Ordnen, Suchen und Finden, mischt sich aber oft zu stark in unseren Alltag ein. In der «Volksstimme» war kürzlich vom Ergolz-Abschnitt «von Lausen bis Böckten» zu lesen, obschon neben dem Alphabet auch die Fliessrichtung es anders gebieten. Führte da die Leserichtung der Karte oder die Grössen der Gemeinden die Feder des Autors; oder war es ihm zu nebensächlich?

Ausgerechnet die trutzigen Schwinger, die Verkörperung des Konservativen, der heilen Welt und der mit Milch gedopten Amateure, lassen sich vom Alphabet nicht auf den Rücken drücken. In ihren Schlussranglisten ordnen sie punktgleiche Athleten nach dem ABC. Doch in den ungeraden Jahren kehren sie die Reihenfolge um. Es gilt das ZYX. Jörg Abderhalden beendete 2001 in Nyon den Schlussgang gegen Noldi Forrer mit Sägemehl auf der Schulter und im dritten Rang. Er wurde aber trotz seines in diesem Jahr diskriminierenden Nachnamens vor Stefan Fausch im dritten Rang platziert, weil er den Schlussgang erreicht hat.

Ganz grundlos lehnen sich die Schwinger nicht gegen das unumstössliche Diktat des Alphabets auf. Denn spätestens beim Gang in den Gabentempel, von dem sie nach der Rangliste geordnet ihren Preis in Empfang nehmen, kann die Feinverteilung den Ausschlag geben, ob der Spitzenschwinger einen wertvollen (und veräusserbaren) «Lebigpreis» nach Hause nehmen kann.

An ihnen könnten sich andere ein Beispiel nehmen, die Veranstalter von Podien, die Taxikundinnen und die Hoteliers. Und die Ergolz könnte sich einmal ihre diskriminierende Fliessrichtung überdenken.

Jürg Gohl, Autor «Volksstimme»

HERZBLUT

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