Ich bringe kein Glück

In meinem Elternhaus spielte Fussball keine Rolle. Wir hatten keinen Fernseher, und mein erster Berührungspunkt mit dem Gekicke der Profis war wohl, als ich 1994 die doppelten Panini-Kleber meines Bruders abstauben konnte. Daraus bastelte ich ein eigenes Heft – das wohl billigste Panini-Album aller Zeiten. Rätselhafterweise wurde ich in dieser Zeit zum Italien- und vor allem zum Roberto-Baggio-Fan. Vielleicht, weil über meinen Nacken wie beim grossen italienischem Stürmer ein Schwänzchen runterhing. Als dieser mit einem der schlechtesten Penaltys aller Zeiten zum tragischen Helden des Finals wurde, hatten wir in den Ferien im Keller zwar sogar einen Fernseher, aber ich war bereits eingeschlafen. Geweint haben soll ich später aber umso mehr.

Zwei Jahre später blieb ich länger wach. Den EM-Final habe ich alleine mit meiner Grossmutter bei ihr im Keller geschaut. Es war vielleicht das einzige Fussballspiel, das sie je in voller Länge gesehen hat, aber für den Enkel hat sie es durchgestanden – mit Verlängerung und diesem vermaledeiten «Golden Goal» von Oliver Bierhoff gegen «meine» Tschechen. Warum ich die toll fand: Auch das ist mir ein Rätsel. Aber traurig war ich über die Niederlage. Und ich brauchte etwa bis 2012, um das deutsche Team wieder schätzen zu können.

Bei der WM 1998 gab es dann keine Rätsel mehr: Am 4. Juli sass ich in einem weiteren Keller, dem meiner Tante, und wurde Fan der Niederlande. Natürlich mochte ich die Farbe Orange, natürlich kannte ich einige Köpfe aus meinem improvisierten Sammelheft vier Jahre zuvor, natürlich war das ein attraktives Team. Aber «Oranje»-Fan wurde ich eher deshalb, weil ich gerade vor der Kiste sass, als Frank de Boer kurz vor Schluss, knapp 10 Meter vor der Mittellinie (!), zu diesem langen, hohen Ball ansetzte. Dennis Bergkamp pflückte die Steilflanke im Sechzehner (!) in vollem Lauf butterweich aus der Luft, spielte den Ball mit der zweiten Berührung unter dem Verteidiger durch und vollendete mit der dritten in die linke hohe Torecke. Wow. Von nun an sollte mein Herz diesem Team gehören.

Nur ein Spiel später reihten sich die Holländer dann schon stramm in meine «tränenvolle» Reihe ein und blieben dem Jammertal in der Folge treu: Im Halbfinal schieden sie mit massenhaft Chancen und verschossenen Elfmetern gegen Brasilien aus. Darauf folgten das Aus an der Heim-EM 2000 mit 5 (!) verschossenen Elfmetern, die WM-Finalniederlage gegen die Spanier 2010 in der Verlängerung, das Penalty-Aus im WM-Halbfinal 2014 und im Viertelfinale 2022, das späte Gegentor nun an der EM im Halbfinal gegen England – offenbar sucht sich mein Herz einfach gerne Verliererteams aus.

Kurz vor meiner Geburt wurden die Niederländer Europameister. Seit es mich gibt, haben sie nie wieder etwas gewonnen, und das Pech klebte ihnen mehrfach am Schuh. Die Holländer wären froh, ich hätte nie die doppelten De Boers sowie Bergkamps meines Bruders erhalten und Fussball hätte für mich weiterhin keine Rolle gespielt.

Sebastian Wirz, Sportredaktor «Volksstimme»

HERZBLUT

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