Nun singen sie wieder (nicht)

Bevor Max Frisch zum vielleicht grössten Schweizer Schriftsteller der vergangenen 100 Jahre pubertierte, hatte er für die «NZZ» Eishockey-Berichte der biedersten Sorte getippt. Kein Ehrgeizling im Sportjournalismus sollte sich diese zum Vorbild nehmen. Umso erstaunlicher ist, dass er nur wenige Jahre später ein Theaterstück mit dem Titel «Nun singen sie wieder» verfasste. Keine Überschrift passt besser zu internationalen Fussball-Titelkämpfen, wie sie alle zwei Jahre im Sommer stattfinden. Es sei denn, die Welt macht den Kotau vor Katar.

Nun singen sie, die Fussballer, wieder. Für Leute vom Fach ist klar: Nur wenn alle elf einer EM-Elf mit verklärten Augen die Nationalhymne schmettern, liefern sie in den folgenden 90 Minuten saubere Büez ab. Und hier, Gott im hehren Vaterland sei’s geklagt, versagen die Schweizer, obschon ihr Psalm in allen vier Landessprachen vorläge. Vor drei Jahren holten sich die Italiener mit ihrem «Avanti popolo» den Titel, weil niemand sonst so inbrünstig mitsang. Beim letzten Ton schwenkten die Kameras immer auf Captain Chiellini, diesen wohltuenden Fussball-Clown und Chef der italienischen Abbruch GmbH. Ein Inbild italienischer Inbrunst.

Freilich blenden wir dabei aus, dass damals die gesanglich nicht minder engagierten Türken keinen Blumentopf gewannen. Auch vergessen wir, dass gegen uns, die Nemo-Nation, danach in der WM-Qualifikation der stimmgewaltige Europameister, immerhin Erbe Verdis und Carusos, ausschied – sang- und klanglos. Wir hatten zuvor beim Singen die Energie geschickt dosiert. Zudem ist die Tradition, die akustisch mehr Terror als Tenor bietet, gar nicht so alt. 1994 – bei der ersten Schweizer WM-Teilnahme nach 28 Jahren Enthaltsamkeit – wäre kein Chapuisat, kein Sutter, kein Geiger auf die Idee gekommen, die Hymne mitzuschmettern. Der kluge Knup sparte seine Tritte fürs Spiel im Abendrot.

Aktuell ist auch das Startfurioso der Deutschen schwer erklärbar, stammt doch ihre Hymne aus der Feder von Brahms, dem Komponisten des schönsten Schlaflieds der Musikgeschichte. Österreichs Nationaltrainer müsste erwägen, seine Auswahl mit Wiener Sängerknaben zu verstärken; und die imposante Titelsammlung der Spanier stellt uns vor Rätsel, müssen die Stars, einer davon erst im Stimmbruch-Alter, tatenlos zuhören, wenn ihre wortlose Hymne «Marcha real» erschallt.

Und ist es ganz im Sinne des Erfinders, dass – wie am Sonntag beim Spiel zwischen England und Serbien – die Fans die Hymne des Gegners mit Pfeifkonzerten musikalisch untermalen? Nein mit roter Karte! Sportanlässe, so wird es immer postuliert, sollen die Länder verbinden, nicht trennen. Da soll der Patriotismus nie die fein gezogene Grenze zum Nationalismus überschreiten.

Übrigens: Am Sonntag machte am Schwingfest in Lausen das Gerücht die Runde, dass die OK-Präsidentin, eusi Sandra, ihrem Fraktionspräsidenten eine Wildcard zugeteilt habe. Dem ist ein zweites Übrigens anzufügen: Frischs bestes Theaterstück trägt den Titel «Biedermann und die Brandstifter».

Jürg Gohl, Autor «Volksstimme»

HERZBLUT

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