Intimsphäre

Was sich hinter verschlossenen Toilettentüren abspielt, geht nur die Person etwas an, die dort eine Erledigung zu machen hat. Ich möchte davon weder etwas hören noch sehen oder riechen, und das soll andersherum auch so gelten.

So war das, bis ich im Spital landete. Nichts Lebensbedrohliches oder Kompliziertes, doch wegen der Schläuche und Schmerzen etwas Freiheitsberaubendes. Von einem Moment auf den anderen ist bis dahin Selbstverständliches ohne fremde Hilfe unmöglich. Auch das, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt.

Dessen bewusst wurde ich mir, als ich im Nachttisch meines Krankenzimmers ein anatomisch geformtes Gefäss aus Chromstahl entdeckte, das mich an eine Alessi-Früchteschale erinnerte. Tatsächlich handelte es sich um eine Bettpfanne: «Nur unter Vollnarkose oder über meine Leiche», schoss es mir durch den Kopf. Der Bettpfannenschock stoppte umgehend meine Darmtätigkeit. An meinem vierten Tag im Krankenbett erkundigte sich eine Schwester nach dem Frühstück nebenbei, ob ich schon auf dem WC gewesen sei – für Gross. Ich verneinte, versicherte ihr aber, mich vögeliwohl zu fühlen. Sie fragte am Abend erneut nach und am folgenden Tag wieder. In drohendmonotonem Ton beschrieb sie die möglichen Folgen eines Darmverschlusses: inneres Gären, geplatzter Darm mit fiesen Infektionen und – nun tippte sie mit dem Finger auf meinen Bauch – künstlicher Darmausgang. «Ich gebe Ihnen ein Abführmittel!» Ich dachte an «Alessi», und hielt dagegen: «Das ist nicht nötig. Ich habe keinerlei Beschwerden, es geht mir blendend.»

Ich habe sie unterschätzt: Bei der nächsten Visite erkundigte sich nun auch einer der behandelnden Ärzte nach meiner Darmtätigkeit. «Petze!», schimpfte ich stumm auf die Schwester, antwortete aber cool: «Ich esse ja wie ein Vögelchen, da ist ja fast nichts.» Die Schwester legte den Kopf schief, der Arzt nickte. Ich hatte Zeit gewonnen. Mein Unbehagen wuchs dennoch: Weshalb muss für Patienten Beschämendes im grossen Kreis thematisiert werden? Habe ich auf dem Eintrittsformular etwa das Kleingedruckte überlesen?: «Für die Dauer Ihres Aufenthalts in dieser Einrichtung geben Sie Ihre Würde ab und verzichten auf jegliche Intimsphäre.»

Am Abend fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Im Traum fragte mich die Dame in der Krankenhaus-Cafeteria fröhlich, ob ich nun schon habe stuhlen können und reichte mir ohne eine Antwort abzuwarten ein Glas. «Feigensaft mit Flohsamenschalen: das putzt durch», flüsterte sie mir verschwörerisch zu. Ich stürzte aus der Cafeteria, aus dem Krankenhaus, flüchtete in Richtung Busstation. Statt des Busses fuhr ein Kanalreinigungsfahrzeug vor. Ich wachte auf. Noch immer lag ich im Krankenbett, doch die Schläuche waren weg und auf dem Nachttisch lagen meine Entlassungspapiere. Eiligst verabschiedete ich mich von «Alessi» und freute mich auf «Laufen» – hinter verschlossenen Türen.

Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»

HERZBLUT

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