Bergtour

Als Wandervogel konnte ich mich bisher nicht bezeichnen. Dieses Jahr sollte sich das jedoch ändern, denn ein verlängertes Wochenende auf der Schwägalp mit meinem Freund stand bevor. Dieses hatte ich vergangenes Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen. Wandern, so dachte ich mir, kann so schwer nicht sein. Das ist ja im Prinzip nur Gehen – kann ich – über längere Zeit – kann ich auch, hält mich ja nichts davon ab. Ich hätte mich bisher nicht als sonderlich naiv bezeichnet. Mit diesem Wochenende sollte sich auch das ändern.

Zum Wandern benötigt man passende Wanderschuhe, die ich jedoch noch nicht besass. Aber nichts einfacher als das, ich zog los in den Sportartikelladen meines Vertrauens. Dass Schuhe nicht das einzige Equipment sind, das man zum Wandern haben kann, merkten wir ziemlich schnell, als wir auf der Schwägalp angekommen waren. «Wir sehen richtig amateurhaft aus», sagte mein Freund zu mir. Es war mir auch aufgefallen, dass alle anderen mit ihren atmungsaktiven Hosen, den Sport-T-Shirts in grellen Farben und den winddichten, wasserabweisenden Softshell-Jacken einen professionelleren Eindruck machten als wir in unseren Jeans, den ganz normalen T-Shirts und unseren uralten Windjacken. Aber gut, das hielt uns ja nicht vom Wandern ab.

Wir hatten vor, auf den Säntis zu wandern. Das sind fast genau 2500 Meter, die schon Leute erklommen haben, die deutlich unsportlicher sind als wir, also alles kein Problem. Nur, dass Mitte Juni auf dieser Höhe zum Teil noch grosse Schneefelder liegen und deshalb davon abgeraten wird, vor Juli auf den Gipfel zu wandern – insbesondere ungeübten Wanderern. Das klang sehr plausibel und hätte uns rückblickend auch selbst in den Sinn kommen können.

Also änderten wir unseren Plan, fuhren nach Wasserauen und «erwanderten» das Gebiet rund um die Ebenalp, so hätten wir mit etwas Glück wenigstens eine schöne Aussicht auf den Säntis. Bis auf den Schäfler, einen Gipfel auf 1925 Meter über Meer, war es ein wirklich schöner Ausflug. Danach blieben uns zwei Optionen für den Abstieg. Beide konnten wir vom Gipfel aus sehen.

Der eine Weg erschien uns ziemlich steil, der andere war dafür länger. Wir entschieden uns für letzteren. Wir trafen noch eine Entscheidung. Und zwar die, ein grosses rotes Schild zu ignorieren, auf dem stand: «DANGER GEFAHR PERICOLO – Ab hier nur für geübte Berggänger mit gutem Schuhwerk.»

Immerhin gutes Schuhwerk hatten wir. Das half aber nicht davor, den Abstieg in eine kleine Tortur zu verwandeln. Rechts von uns die Felswand, links der Abgrund, der Weg dazwischen, zum Teil gerade breit genug, um beide Füsse nebeneinander zu stellen, zum Teil kaum zu erkennen. Ich war wirklich kein Wandervogel. Und da fiel mir wieder ein, was ich auch nicht war: schwindelfrei. Mit einer Geschwindigkeit von vielleicht einem Kilometer pro Stunde kämpfte ich mich deshalb Schritt für Schritt wieder ins Tal. Dort habe ich so einiges überdacht. Ob der Aufstieg auf den Säntis etwas für mich wäre? Mittlerweile bezweifle ich das.

Michèle Degen, Redaktorin «Volksstimme»

HERZBLUT

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