Jürg Gohl

Herzliche Gratulation zu Ihrem Transfer, Herr Grazioli. Oder ist für Sie ein Wechsel bloss Business?
Leonard Grazioli: Nein, nein. Es haben sich bereits sehr viele Leute bei mir gemeldet, um mich zu meinem Schritt zu beglückwünschen. Es ist schon etwas Aussergewöhnliches für einen Schweizer Handballer, wenn er ins Ausland wechseln kann. Das ist das pure Gegenteil von einem Alltagsgeschäft. Der Kontakt zu Wetzlar bestand schon lange, jetzt ist alles konkret.

Sie gehen ja nicht einfach nur ins Ausland, sondern gleich nach Deutschland, also in die neben Spanien renommierteste Liga der Welt.
Von der Stärke her ist Frankreich vielleicht die Nummer zwei. Deutschland aber ist die Nummer eins nicht nur in Europa, sondern der Welt.

Verglichen mit der Schweiz werden Sie in Deutschland vor einem grösseren Publikum spielen und weit mehr Aufmerksamkeit erzielen. War das bei Ihrer Zusage ausschlaggebend?
Natürlich gehört das zum Gesamtpaket. Doch wenn ein Anruf aus Deutschland kommt, müssen andernorts sportlich starke Argumente vorliegen, um noch lange zu zögern. Den Ausschlag gab zur Hauptsache wirklich, dass ich auf dem höchstmöglichen Niveau Handball spielen, mich damit weiter verbessern und in meiner Laufbahn den nächsten grossen Schritt machen kann.

Sie haben sich in dieser Saison bei Ihrem jetzigen Verein, dem HSC Suhr Aarau, etablieren können. Ihr neuer Klub hingegen bezeichnet Sie als Investition in die Zukunft. Wäre das kein Grund zu zögern?
Natürlich habe ich vieles abgewogen, ehe ich zusagte. Es war ein langer Prozess. Doch aus rein sportlicher Optik muss jeder die Chance, in der Bundesliga zu spielen, packen, wenn sie sich ihm überhaupt bietet. Sicher verfüge ich bei meinem jetzigen Klub über einen ausgezeichneten Goalietrainer und bin inzwischen Stamm-Torhüter. In Wetzlar hingegen werde ich wieder von vorne beginnen müssen und mich herankämpfen. Aber diese Herausforderung hat mich eher gereizt als abgeschreckt.

Oft mahnt man junge Sportler zur Geduld, anstatt gleich ins Ausland zu wechseln.
Sicher ging mir der Gedanke, nochmals ein Jahr zuzuwarten, um mich in der Schweiz zu etablieren, auch mehrfach durch den Kopf, ehe ich meinen Entscheid traf. Zu bleiben wäre auch nicht falsch gewesen, aber es passte bei mir alles so schön zusammen.

Werden Sie bei Wetzlar als Vollprofi angestellt sein?
Ich werde in Wetzlar hauptsächlich Handball spielen und daneben ein Fernstudium absolvieren. Das handhaben die meisten Spieler so, damit sie nach ihrer Laufbahn bereits etwas im Rucksack haben. Man muss schliesslich auch an die Zukunft denken.

Sie werden wohl auch mehr verdienen als bisher. Wie stark wirkte sich das auf Ihr Jawort aus?
Überhaupt nicht. Verglichen mit anderen Sportarten spielt bei uns das Finanzielle eine untergeordnete Rolle. Fest steht, dass mir das bevorstehende Abenteuer Bundesliga auch in meiner späteren Laufbahn helfen wird. Denn als Torhüter kann man relativ lange auf höchstem Niveau spielen. Das beste Goalie-Alter, so heisst es, sei mit etwa 30 Jahren erreicht. Bis zum Zenit fehlen mir also noch neun Jahre.

Eine Hauptrolle spielen immer auch die sportlichen Perspektiven des Klubs. Was können Sie hier über Wetzlar, den aktuellen Tabellenfünften, berichten?
Wetzlar spielt seit Jahren in der obersten Liga, ist also etabliert. Ich treffe dort auf viele junge Mitspieler und ausgezeichnete Trainer. Ein interessantes Projekt, dem ich eine gute Zukunft voraussage. Sicher liegt mit dieser Mannschaft mehr drin als der aktuelle 5. Rang. Wetzlar ist sicher für junge Spieler eines der besten Pflaster in der Bundesliga.

Sie treffen auch auf Nationalmannschaftskollege Lenny Rubin, der seit vier Jahren dort spielt. Hat er Sie zum Wechsel ermuntert?
Selbstverständlich habe ich mich mit ihm ausführlich unterhalten, und er riet mir nicht ab. Zudem wechselt mit mir Jonas Schelker von Schaffhausen nach Wetzlar, sodass wir dort eine kleine Schweizer Fraktion bilden.

Und was können Sie über die Stadt Wetzlar berichten?
Bisher habe ich Wetzlar einmal besucht. Die Stadt in der Nähe von Frankfurt ist ländlich gelegen, zählt 50 000 Einwohner und hat eine schöne Altstadt. Auch diesbezüglich darf ich mich freuen.

Sie werden Sissach also nicht vermissen.
Das Zuhause mit Familie, Freundin und Freunden werde ich sicher vermissen. Das wiegt schwerer als der Ort Sissach. Aber auch mein Umfeld freut sich für mich auf diese neue Herausforderung.

Zur Person

jg. Der Sissacher Handball-Goalie Leonard Grazioli ist 21 Jahre alt und spielt beim HSC Suhr Aarau. Dort hat er sich als Nummer eins etabliert. Davor hat er beim TV Birsfelden das Tor gehütet. Vor einem Jahr bestritt er mit dem Schweizer Nationalteam die Weltmeisterschaft in Ägypten und ist inzwischen elffacher Nationalspieler. In Wetzlar unterschrieb der 1,93 Meter grosse Goalie einen Zweijahresvertrag.

«Wenn ein Anruf aus der Bundesliga kommt …»

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