Das Gesicht unter der Maske

Das war es also mit der Maskenpflicht. Ein Tag, auf den ich mich schon lange gefreut habe, denn – vielleicht erinnern Sie sich – ich verlege oft Dinge, die ich eine Minute zuvor noch in den Händen hatte. Neben Handy, Autoschlüssel und Brille suchte ich in den vergangenen zwei Jahren nun auch regelmässig nach der Gesichtsmaske, die ich mir doch gerade erst bereitgelegt hatte.

Ob dieser Tag nun endlich oder viel zu früh gekommen ist, darüber habe ich in den vergangenen Tagen schon viel zu viel gesprochen, darum soll es hier nicht gehen. Etwas hat mich aber erstaunt: Wie sehr ich mich an die Maske gewöhnt habe. Als ich vergangenen Donnerstag vor der Migros stand, linste ich zuerst einmal von aussen in den Laden. Tatsächlich liefen darin wieder Leute ohne Maske rum. Als ich dann selbst völlig maskenlos zwischen Rüebli und Kopfsalat stand, fühlte sich das ganz schön seltsam an. Fast ein bisschen «blutt». Mit Maske war man in gewisser Weise inkognito unterwegs. Jetzt ist man wieder für jede und jeden sichtbar.

Das habe ich dann auch im Fitnessstudio bemerkt. Zuerst wurde ich einfach das Gefühl nicht los, dass ich etwas vergessen hatte. Und dann musste ich mir ständig in Erinnerung rufen, dass die anderen mich jetzt ja sehen können. Und die Gesichter, die ich mache. Darunter das «Oje-ist-dasanstrengend-Gesicht», das «Mache-ich-daswirklich-richtig?-Gesicht», das «Die-letztenfünf-Sekunden-dauern-ewig-Gesicht» und das «Ich-hab-einen-Krampf-Gesicht». Keines davon ist irgendwie würdevoll, denn während der Maskenpflicht habe ich mir deutlich mehr Mimik erlaubt als sonst. Das heisst, es sind weniger Gesichtsausdrücke denn Grimassen, die ich da ziehe, während ich mich (das nächste Stück Schokoladenkuchen vor Augen) durch meine Übungen quäle. Das muss ich mir schnell wieder abgewöhnen.

Ich habe aber den Eindruck, dass es möglicherweise nicht nur mir so geht. Denn als ich mich umgesehen habe, sind mir viele lustige Gesichtsausdrücke aufgefallen. Einmal kreuzte mein Blick jenen einer Frau, die sich ebenso abmühte wie ich und gerade eindeutig das «Warum-macheich-das-hier-noch-gleich?-Gesicht» zog. Ich strengte mich gerade an, genau dieses Gesicht zu unterdrücken. Sie sah aus, wie ich mich fühlte. Ich grinste sie schief an. Und zu meiner Überraschung grinste sie zurück. Das gab es schon lange nicht mehr. Mit Maske wusste ich meist weder, ob mein Gegenüber sah, dass ich es angrinste, noch ob es vielleicht zurückgrinste. Meist konnte ich das Gesicht hinter der Maske nur erahnen. Das verlieh mir direkt einen kleinen Motivationsschub. Mimik ist eine ziemlich gute Sache. Da darf es auch mal ein bisschen zu viel sein.

Michèle Degen, Redaktorin «Volksstimme»

HERZBLUT

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