Digitale Nabelschnur

Für Eltern bleiben Kinder immer Kinder; sobald man sie hat, sorgt man sich um sie. Meine Mutter mahnt mich bis heute, mich warm anzuziehen. Während sie sich also um mich sorgt, sorge ich mich um meine Kinder und diese wiederum sorgen sich um mich. Eine richtige Sorgerei, und ehrlich, in den meisten Fällen völlig überflüssig. Bis auf wenige Ausnahmen. Denn, wenn mir meine Mutter mit 60 Jahren eröffnet hätte, dass sie Job und Wohnung hinschmeisst, in ein Wohnmobil zieht und damit in der Weltgeschichte herumkarrt, dann hätte ich mir garantiert Sorgen um ihren geistigen Zustand gemacht. So gesehen haben meine Töchter ziemlich gefasst auf diese Botschaft meinerseits reagiert.

Dabei geholfen hat, dass wir eine digitale Nabelschnur eingerichtet haben. Wir sind über verschiedene Apps miteinander im Austausch. Eine davon ist speziell fürs Reisen entwickelt. Über sie kann man Freunde wissen lassen, wo man gerade ist und sie zeitnah mit Bildern der entsprechenden Destinationen beglücken. Wie exakt die Ortung des eigenen Standorts ist, wusste ich allerdings lange nicht. «Hey Mum», kam eines Tages eine Nachricht einer meiner Töchter, «lass dir Kaffee und Kuchen schmecken!». Fast hätte ich mich am letzten Bissen meiner Tarte aux pommes verschluckt. Wie konnte meine Tochter, von der ich wusste, dass sie in der Schweiz war, ahnen, was ich gerade tat?

Die Antwort hatte nichts mit übersinnlichen Kräften zu tun. «Polarsteps» registriert auf einer Karte über das GPS meines Handys bis auf wenige Meter genau meinen Standort. Ausserdem zeigt es, was sich gerade um mich herum befindet. Wenn meine Kinder sehen, dass der blinkende Punkt in einem Café haltgemacht hat, dann wissen sie, dass ihre Mutter wieder einmal bei Café au Lait und Tarte sitzt. Big Brother lässt grüssen! Natürlich könnte ich die Ortung ausschalten. Aber dann blinkt mein Standort vielleicht tagelang irgendwo mitten auf einer Schnellstrasse. Oder auf dem Meer draussen, was auch schon vorgekommen ist. Diesen Schrecken will ich meinen Kindern nicht antun.

Dann ist es vielleicht doch besser, eine Weile ganz vom Bildschirm zu verschwinden. Das ging früher doch auch. Wann war das noch? Ende der 70er-Jahre? Wir waren gerade mal 18, 19 Jahre alt, kauften ein Interrail-Ticket und sind einen Monat lang kreuz und quer mit dem Zug durch Europa gefahren. «Ich bin dann mal weg!», hiess das für meine Eltern. Sie wussten, dass sie jetzt einen Monat nichts von mir hören würden. Ich war auf mich selbst gestellt und fühlte mich wie eine Weltentdeckerin. Abenteuer pur. Für meine Eltern wohl eher Sorge pur.

Nein, ich bin wirklich froh, dass meine Kinder, als sie ins Alter für längere Reisen kamen, schon ein Handy besassen. Natürlich erwartete ich von ihnen, dass sie sich alle paar Tage meldeten. Schade, gab es damals die Reiseapp mit Ortung noch nicht. Ich hätte sie den ganzen Tag auf Schritt und Tritt verfolgt, und mir wahrscheinlich trotzdem immer Sorgen um sie gemacht.

Yvonne Zollinger ist ehemalige «Volksstimme»- Redaktorin und lebt in ihrem Wohnmobil.

HERZBLUT

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