42 Kilogramm Sensation: Als Isegrim innert zweier Wochen 30 Schafe riss
25.11.2021 Baselbiet, Natur, SchweizDavid Thommen
Der (mutmassliche) Wolf und die sieben Geisslein von Lauwil, die Sichtung des Wolfs in Zeglingen: Diese Neuigkeiten werden zumindest von den nationalen Medien bislang nur routiniert, ja fast schon gelangweilt zur Kenntnis genommen. Daran, dass ein Wolf hin und ...
David Thommen
Der (mutmassliche) Wolf und die sieben Geisslein von Lauwil, die Sichtung des Wolfs in Zeglingen: Diese Neuigkeiten werden zumindest von den nationalen Medien bislang nur routiniert, ja fast schon gelangweilt zur Kenntnis genommen. Daran, dass ein Wolf hin und wieder einige Schafe und Ziegen holt, hat man sich seit der Rückwanderung des Raubtiers in die Schweiz offensichtlich schon gewöhnt.
Das war im Jahr 1990 noch ganz anders, als ein Wolf eine Blutspur durch den Nordwestschweizer Jura zog: Vor allem die Schriftsetzer beim «Blick» griffen damals täglich in die Schublade mit den ganz grossen Buchstaben. Durchwegs war von einer «mordenden Bestie» oder einem «Untier» die Rede. «Blick»-Reporter in Tarnkleidung seien im Waldenburgertal gesichtet worden, hiess es damals, die Journalisten hätten sogar beabsichtigt, in Zelten im Wald zu übernachten, um von dort aus die Hatz auf das Raubtier mit Fotokamera und langen Teleobjektiven zu starten. Die Reporter setzten sich auch an den Stammtisch des Gasthofs Ochsen in Oberdorf, um die neusten Gerüchte zu erfahren und sofort nach Zürich durchzutelefonieren. Der Wolf war eine Sensation.
Täglich neue Risse
Begonnen hatte die Aufregung in Seewen im Solothurner Schwarzbubenland gleich ennet der Baselbieter Grenze. Anfang Mai 1990 lagen dort sieben tote, wüst zugerichtete Schafe auf einer Weide. Wenig später wurden nebenan in Reigoldswil zwei Nutztiere gerissen, kurz darauf zehn Schafe in Titterten und nochmals etwas später weitere fünf Tiere in Oberdorf. Am 8. Mai 1990 hiess es in der «Volksstimme» auf der Frontseite: «Wolf verbreitet Schrecken im Baselbiet – bereits 24 Tiere gerissen».
Zunächst hatte alles auf einen Luchs hingedeutet: Die Beutetiere waren per Drosselbiss getötet worden, sie wiesen tiefe Kratzspuren über den Rücken auf und gefressen wurde vorwiegend Muskelfleisch, was alles als «luchstypisch» gilt. Dass ein Luchs kaum in dieser horrenden Kadenz derart viel Beute macht, wurde von den Experten zwar erwähnt, doch man erklärte es sich damit, dass es sich vermutlich um ein abgesprengtes Jungtier handle, «welches des Reissens noch ungeübt war». Luchse waren damals erst höchst sporadisch in Baselbieter Wäldern unterwegs.
Nach den ersten Rissen beorderte das zuständige Bundesamt zwei Luchsspezialisten aus der Westschweiz ins Baselbiet. In einer Mitteilung der Baselbieter Volkswirtschafts- und Sanitätsdirektion hiess es anschliessend: «In der Nacht auf Samstag um 23.30 Uhr ist es den Spezialisten aus Yverdon gelungen, den Übeltäter in Oberdorf zu identifizieren. Man höre und staune: Es handelt sich nicht um einen Luchs, sondern um einen Wolf!»
Nicht in den Wald!
Und weiter: Jetzt probiere man, dem gesichteten Raubtier «habhaft» zu werden. Gleichzeitig rief die kantonale Behörde die Bevölkerung dazu auf, in der Region Oberbaselbiet «die Wanderwege nicht mehr zu verlassen und Hunde zwingend nur noch an der Leine zu führen». «Akute Gefahr» für Menschen bestehe zwar nicht, gleichwohl sollten «Dickungen (also dichter Bewuchs, die Red.) neben den Wanderwegen sowie Querwanderungen durch die Wälder vermieden werden».
Das Tierspital Bern, das die Schafskadaver untersucht hatte, stellte die Wolfs-These allerdings bald infrage. Man gehe eher von einem Luchs aus, sagten die Zuständigen. Bestätigt sahen sich die Experten kurze Zeit später, als auf einer Weide beim Sissacher Hof Unterer Wölflistein – Nomen est Omen – erneut zwei Jungschafe «gerissen und zu dreivierteln aufgefressen» worden waren. Ein Wolf als Täter könne so gut wie ausgeschlossen werden, hiess es, denn ganz in der Nähe des «Wölflisteins» sei zusätzlich ein «halb aufgefressener Fuchs» gefunden worden. Der Fuchs aber stehe nicht auf dem Speiseplan des Wolfs. Nur Luchse erbeuteten Füchse. Die Sissacher Jäger hatte derweil eine ganz andere Theorie: Es sei wohl ein Hund gewesen. Alle irrten.
Die Blutspur des Wolfs zog sich nun weiter über den Jurakamm. In Wangen bei Olten waren wiederum Schafe gerissen worden, danach auch in Hägendorf: Unterhalb des dortigen Schützenhauses lagen vier tote Schafe auf der Weide. Dieses Mal liess man die Kadaver liegen, in der Hoffnung, der Täter kehre in der folgenden Nacht an den Tatort zurück, um weiterzufressen.
Die Rechnung ging auf: Die Jäger, die auf einem Hochsitz Stellung bezogen hatten, bemerkten um 0.30 Uhr, wie die Schafe, welche die Attacke vom Vortag überlebt hatten, auf der Weide unruhig wurden, zudem drängten plötzlich verschreckte Rehe aus dem Wald. «Und dann sahen die Jäger, wie der Wolf auf einer geteerten Strasse daherkam», hiess es später in der «Volksstimme». Einer der Jäger habe den Räuber aus einer Distanz von 100 Metern mit einem «gezielten Schuss» in die Flanke niedergestreckt. Ein zweiter Jäger gab in der Folge dem am Boden liegenden Raubtier mit einem Fangschuss aus 20 Metern Entfernung den Rest.
Volksauflauf in Bärenwil
Tags darauf wurde der Wolf auf einem Tisch vor dem Restaurant Chilchli in Bärenwil der Öffentlichkeit präsentiert. Es habe einen Volksauflauf gegeben, wie ihn dieser Weiler bei Langenbruck wohl noch nie erlebt habe, konstatierte die «Volksstimme».
Der Wolfskadaver war waidmännisch auf Tannenästen präsentiert worden, der Kopf lag leicht erhöht auf zwei Holzscheiten, damit dieser besser zur Geltung kam. Für die vielen Fotografen wurden die Lefzen des Tiers hochgezogen, was einen Blick auf die imposanten Fangzähne ermöglichte. Die beiden beteiligten Jäger wurden von der Presse bestürmt, sich hinter den Tisch mit dem Wolf zu stellen und sich per Handschlag zur gelungenen Jagd zu gratulieren. Ganz wohl war den beiden nicht: Sie hätten bereits «viele giftige Bemerkungen» gehört, raunten sie sich zu. Man stelle sich den Shitstorm in den sozialen Medien vor, den ein solches Foto heute verursachen würde. Hätte man den reissenden Wolf auch fangen statt töten können? Nein, meinte damals ein Jäger: Gefangenschaft sei für ein solches Raubtier grausamer als der Tod.
Ausgestopft
Der acht- bis elfjährige Wolfsrüde, der in Bärenwil hundertfach abgelichtet wurde, war ein stattlicher Vertreter seiner Art: 42 Kilogramm schwer, eine Länge von 1,50 Metern und eine Risthöhe von 80 Zentimetern. Das Tier wurde später ausgestopft und ist heute im Naturmuseum Olten zu besichtigen.
Stets unklar blieb, woher der Wolf damals im Mai 1990 so plötzlich gekommen war. Vermutet wird, dass er aus einem Gehege einer möglicherweise unbewilligten Tierhaltung in Frankreich ausgebrochen sein könnte. Unnatürliche Wetzstellen an den Zähnen deuteten darauf hin, dass das Tier immer wieder an Metall – zum Beispiel an einem Eisengitter – genagt hatte. Zudem seien die Krallen des Tiers lang und spitz gewesen: Ein Wolf in Freiheit ist viel unterwegs und wetzt die Krallen dadurch deutlich stärker ab. Dies hatte zur anfänglichen Fehlinterpretation geführt, dass die tiefen Kratzspuren an der Beute nur von einer Grosskatze stammen könnten.
Die Landwirte in der Region Nordwestschweiz atmeten auf, nachdem der Wolf tot war. Allerdings ärgerten sie sich auch ein wenig: Sie wurden nicht entschädigt. Gegen etwas, was es hierzulande gar nicht gab, war man auch nicht versichert. Wäre ein Luchs der Täter gewesen, hätte es für die Schafzüchter finanziell günstiger ausgesehen. Mit der Rückkehr des Wolfs in die Schweiz hat sich das mittlerweile geändert.
Sieben Geissen hat der jetzige «Baselbieter» Wolf möglicherweise schon auf dem Kerbholz. Das wird man ihm wohl noch knapp nachsehen. Stellt er hingegen weiterhin den Geissen nach, sollte Isegrim Hägendorf künftig besser meiden.