«Es wird in 20 Jahren noch viele Bücher geben»
30.04.2020 Bezirk LiestalElmar Gächter
Herr Matter, gibt es einen schöneren Job als den des Leiters einer Institution, die eine der beliebtesten im ganzen Kanton ist?
Gerhard Matter: Sagen wir so: Es gibt wohl kaum einen interessanteren. Es war mir über all die Jahre sehr bewusst, dass ich für eine tolle Institution tätig sein durfte. Auf jeden Fall komme ich bis heute sehr gerne zur Arbeit.
Welchen Anteil an diesem Erfolg dürfen Sie für sich beanspruchen?
Vielleicht lässt sich dieser am ehesten mit dem eines Fussballtrainers vergleichen. Es ist die Aufgabe eines verantwortlichen Leiters, die Geschäftsidee weiterzuentwickeln, den Betrieb in die Zukunft zu führen sowie die Mitarbeitenden zu befähigen, die Strategie umzusetzen.
Was war für Sie von Anfang an das Wichtigste als Kantonsbibliothekar?
Die Qualität unserer Angebote. Wenn man sich vor Augen führt, was im Internet heutzutage an «Fake News», ja an Schmarren zusammengeschrieben wird, braucht es eine Institution, die ein ausgewähltes Produkt von hoher Qualität anbietet. Unsere Kundschaft, ob Kinder oder Erwachsene, muss sich darauf verlassen können, dass jedes Medium, das wir ausleihen, von Fachpersonal geprüft worden ist.
Dies ist auch mittel- und längerfristig die wichtigste Aufgabe der Bibliotheken und gilt für jedes Medium, ob herkömmliches Buch oder Onlineangebot. Den Slogan «Steht Bio drauf, ist Bio drin» können wir auch für unsere Produkte übernehmen: «Steht Bibliothek drauf, ist Qualität drin». Ich muss mich als Bibliotheksnutzer selbstverständlich darauf verlassen können, dass die Qualität der Buch- und Medienangebote stimmt. Letztlich ist es das Vertrauen, das man sich erarbeiten muss.
Und wer stellt diese Qualität sicher?
Bei uns sind 13 sogenannte Fachreferentinnen und -referenten in verschiedenen Sachgebieten zuständig für die Auswahl neuer Titel und somit verantwortlich für den Aufbau eines attraktiven Buch- und Medienangebots. Für jedes Fachreferat gibt es ein Angebotsprofil, das sich an den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer orientiert sowie an einem Kreditbetrag.
Worauf führen Sie den grossen Erfolg der Kantonsbibliothek zurück?
Es sind verschiedene Faktoren wie Kundenfreundlichkeit, professionelle Dienstleistungen, ein aktuelles Buchund Medienangebot, Veranstaltungen oder grosszügige Öffnungszeiten. Zudem hilft uns das einzigartige Bibliotheksgebäude sehr. Die Leute fühlen sich bei uns sehr wohl. Das schönste Lob dabei ist, dass täglich gegen 1000 Besucherinnen und Besucher zu uns kommen. Ich erinnere mich an den damaligen Bundesrat Hans-Rudolf Merz, der beim offiziellen Empfang für den neu gewählten Nationalratspräsidenten Claude Janiak mit fast überschwänglicher Begeisterung meinte: «Eine so tolle Bibliothek habe ich noch nie gesehen».
Wie stark beeinflusst das Angebot das Leseverhalten der Bevölkerung, vor allem auch der Kinder und Jugendlichen?
Es ist eine der Kernaufgaben der Bibliotheken, das Lesen sowie die Informations- und Medienkompetenz zu fördern. Heute ist es nicht mehr möglich, ohne ausreichende Lesekompetenz am öffentlichen Leben teilzunehmen und im Beruf erfolgreich zu sein. Lesen ist eine Kulturtechnik, die erlernt und trainiert werden muss.
Und wie hat es sich in den vergangenen Jahren verändert?
Klar wird heute mehr ab Bildschirm gelesen. Oft wird auch behauptet, dass nur noch kurze Texte gelesen werden. Das deckt sich nicht generell mit unseren Erfahrungen; denn besonders dicke Bücher werden häufig und auch von Jugendlichen gerne gelesen. Gemäss Kulturstatistik des Bundes ist Lesen die am häufigsten ausgeübte Kulturtätigkeit.
Was tragen die Bibliotheken zur Bildungslandschaft bei?
Bibliotheken stellen so etwas wie das Bindeglied zwischen Schule und Kultur dar. Ich bin überzeugt, dass unsere Institutionen, zu denen ich auch die Schulbibliotheken zähle, die Grundkompetenzen fördern. Ein grosser Schritt in diese Richtung sind die Lesezentren an den Sekundarschulen, wo Oberdorf sich als erste für einen Testbetrieb zur Verfügung gestellt hat. Diese Lesezentren unterscheiden sich fundamental von den herkömmlichen Schulbibliotheken, hier herrscht ein richtig reger Betrieb. Es werden in den Zwischenstunden und Pausen Hausaufgaben gemacht und ältere Schüler unterstützen die jüngeren.
Ein ganz wesentlicher Teil Ihrer Angebote besteht aus verschiedensten Veranstaltungen. Welche bleiben Ihnen in ganz besonderer Erinnerung?
Veranstaltungen sind für uns sehr wichtig. Wir möchten unseren Leserinnen und Lesern persönliche Begegnungen mit Autorinnen und Autoren ermöglichen. Mittlerweile sind wir ein wichtiger Kulturveranstalter der Region und bei den Autorinnen und Autoren sehr geschätzt. Internationale Denker und Schreiber wie Peter Scholl-Latour, Ulrich Wickert, Elke Heidenreich, Martin Walker und andere konnten wir nach Liestal holen. Ganz tief gegangen ist mir die Begegnung mit Hugo Lötscher, der mit seinem damals noch unveröffentlichten, autobiografischen Buch «War meine Zeit meine Zeit» im März 2008 zu uns kam. Es war seine letzte Lesung, bevor er ein paar Monate später starb. Von den 750 Lesungen in den vergangenen 15 Jahren bleibt mir der Besuch von alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in bester Erinnerung. Gegen 120 Besucherinnen und Besucher warteten eine volle Stunde auf sie, weil sie in Bern in den falschen Zug gestiegen war. Als sie eintraf, nahm sie, wie wenn nichts geschehen wäre, Platz und hatte das Publikum mit ihrem herzlichen Lachen sofort in der Tasche.
In Zeiten wie diesen kommt man um das Thema Coronavirus nicht herum. Was bedeutet diese ganz aussergewöhnliche Situation für Ihre Kundschaft?
Wir mussten für Besuchende schliessen und die Ausleihe der Bücher und Medien kurzfristig stoppen. Dabei haben wir uns entschieden, die Leihfristen zu verlängern und die Bücher vorläufig nicht zurückzunehmen. Wir hätten kaum Platz, alle ausgeliehenen Medien plötzlich bei uns zu stapeln. Andererseits haben wir das Onlineangebot massiv erhöht und es wird sehr gut genutzt. E-Books haben um rund 40 Prozent zugenommen, die Streaming-Angebote mit Filmen um das Mehrfache. Und wir stellen fest, dass uns unsere Kundschaft sehr viel Verständnis und Sympathie entgegenbringt. Da die Bibliotheken voraussichtlich erst am 8. Juni wieder geöffnet werden können, werden wir ab Anfang Mai einen Abholservice einrichten. Im Onlinekatalog reservierte Medien können in der Bibliothek entweder selbst oder von einer Vertrauensperson abgeholt werden. In Ausnahmefällen werden wir auch nach Hause liefern.
Und wie ist die Situation für die Mitarbeitenden?
Sie sollen vor allem vor Ansteckung mit dem Virus geschützt werden. Die meisten arbeiten weiterhin in der Bibliothek. Zum einen ist es von den Aufgaben her schwierig, Homeoffice zu praktizieren, zum andern erlaubt es unser grosses Haus, beim Arbeiten die geltenden Abstandsvorschriften problemlos einzuhalten. Die Schliessung der Bibliothek für die Öffentlichkeit ermöglicht es uns, länger geplante Projekte zu realisieren. So verbessern wir die Präsentation der Bücher, damit sich die Nutzerinnen und Nutzer leichter zurechtfinden. Lassen Sie sich bei der Wiedereröffnung überraschen.
Wie sieht die Kantonsbibliothek aus Ihrer Sicht in 20 Jahren aus?
In den 15 Jahren seit der Eröffnung 2005 wurde die Kantonsbibliothek von fast 4 Millionen Leuten besucht. Das hat Spuren hinterlassen – auch am Gebäude. Es ist wichtig, es in einem guten Zustand zu erhalten. Nur so kann es als attraktiver Treffpunkt weitergeführt werden. Zwar wird die Digitalisierung fortschreiten, aber die Menschen brauchen Orte, wo sie sich wohlfühlen und anregen lassen können; Orte von hoher Aufenthaltsqualität, die ohne Eintritt und ohne Konsumationszwang besucht werden können. Dies lehrt uns die gegenwärtige Krise ganz besonders. Und es wird auch in 20 Jahren noch viele Bücher geben. Ich bin sicher, dass die Kantonsbibliothek bis 2040 noch von weiteren 5 Millionen Menschen besucht werden wird.
Die obligate Frage: Welche Bücher liegen bei Ihnen auf dem Nachttisch?
Immer mehrere, aktuell «Die Heimkehr» von Thomas Hürlimann – das Coronavirus hat verhindert, dass er am 23. April zu meiner letzten Veranstaltung kommen konnte – und der neueste Krimi von Hansjörg Schneider «Hunkeler in der Wildnis». Zudem Bücher über Georgien und den Iran, den ich kürzlich besuchte.
Morgen wird Susanne Waefler Ihre Nachfolge als Kantonsbibliothekarin antreten. Welche Tipps geben Sie Ihrer Nachfolgerin mit auf den Weg?
Sie ist eine sehr qualifizierte Persönlichkeit. Ihr brauche ich keine Tipps zu geben. Ich wünsche ihr viel Erfolg und Freude bei der Arbeit.
Zur Person
emg. Der 65-jährige Gerhard Matter hat an der Universität Zürich Geschichte und Geografie studiert und 1985 doktoriert. 1989 folgte das postgraduate Studium zum Wissenschaftlichen Bibliothekar an der Universität und Zentralbibliothek Zürich. Sein beruflicher Werdegang führte ihn an die Stadt- und Kantonsbibliothek Zug und als stellvertretender Leiter an die Stadtbibliothek Winterthur, bevor er auf den 1. September 1990 zum Kantonsbibliothekar Baselland gewählt wurde.
Gerhard Matter hat drei erwachsene Kinder und ein einjähriges Grosskind und wohnt mit seiner Lebenspartnerin in Liestal. «Ich will vieles auf mich zukommen lassen, so unter anderem Reisen, Radfahren, Garten, Kochen, Weine – vor allem aus dem Burgund –, Lesen, Theater und historische Forschungen», blickt er in die Zukunft.