Lesetipp | «Das Eidechsenkind» von Vincenzo Todisco

«Das Kind macht zuerst das linke und dann das rechte Auge auf. Es hat den Kopf an zwei Orten. Einmal in Ripa, wo ihm nichts geschehen kann, und einmal in der Wohnung, wo es die Schritte zählen muss.» So beginnt das Schicksal eines Kindes, das sich im Gastland verstecken muss.

Rita Horand

1961 hat Alcindo seine Heimat Ripa in Italien verlassen, um als Gastarbeiter in der Schweiz Geld zu verdienen. Anfangs haust Al wie viele andere in einer Baracke. Bald darf er in eine Wohnung, ins Mehrfamilienhaus des Bauunternehmers einziehen und seine Frau nachholen. Das gemeinsame Kind wird verschwiegen. Als die Nonna stirbt, wird das Kind über die Grenze geschmuggelt. Das Kind muss versteckt werden, es wird zum Geheimnis, weil die Eltern ihre Arbeit verlieren könnten. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter putzt.

Früher in Ripa, bei der Grossmutter, konnte sich das Kind frei bewegen und war glücklich. Hier im Gastland lauert überall Gefahr. Das Kind ist allein gelassen in einer Wohnung, in einer neuen Welt. Der Junge lernt, sich zu verstecken, zählt Schritte und verhält sich wie eine Eidechse, die in jede Ritze huschen kann. Es gibt nur ein Leben hinter zugezogenen Vorhängen.

Geplant sind fünf Jahre Gastland, doch nie reicht das Geld für die Heimreise. Das Eidechsenkind entwickelt sich zum Eidechsenjungen und wird mutiger. Er schleicht sich nachts aus der Wohnung und vermisst die neue Welt mit Schritten, vom Keller bis unters Dach. Er schleicht sich in Nachbarswohnungen, hortet liegen gelassene Gegenstände, bleibt bewegungslos versteckt, wenn sich jemand bemerkbar macht. Mutig verlässt er nachts das Haus. Brenzlige Situationen für die ganze Familie bleiben nicht aus. Im Haus gibt es mehr und mehr Verbündete und er lernt die unterschiedlichen Nachbarn kennen. Es entwickeln sich Freundschaften. Erst als der Vater krank wird, gibt es eine Wende im Leben des Eidechsenjungen.

Ich bin als Leserin in die Geschichte eingetaucht und war ganz nah am Geschehen, nah dran am Schicksal des Kindes. Es ist ein stilles, trauriges und doch schönes Buch, das mich ohne grosses Aufsehen an einem Stück Zeitgeschichte teilnehmen lässt. Dies im Wissen, dass es viele versteckte Kinder gab und heute wieder gibt.

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. «Das Eidechsenkind» ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

Vincenzo Todisco, «Das Eidechsenkind», Rotpunktverlag, 2018, 214 Seiten.

Öffnungszeiten der Bibliothek Sissach:
Dienstag bis Freitag, 14 bis 18 Uhr,
Samstag, 10 bis 13 Uhr.

Rita Horand ist Mitarbeiterin der Schul- und Gemeindebibliothek Sissach.

Ein Kind, das nicht Kind sein darf

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