Telefonreflexe

Die Natur hat das gut eingerichtet: Würde man als Mutter nicht mindestens die Hälfte dessen vergessen, was man mit seinen Kindern mitgemacht hat, wäre die Menschheit bestimmt schon längst ausgestorben.

Da wäre zum Beispiel die Sache mit dem Telefon. Es ist ein Phänomen, das noch kein Forscher untersucht hat. Aus irgend einem Grund haben Telefone auf Kinder eine fatale Wirkung. Und ich meine damit nicht die Strahlung oder den Einfluss des Internets. Ich nenne es den Telefonreflex.

Als ich neulich mit meiner Tochter telefonierte und nach den ersten Worten im Hintergrund plötzlich die Hölle in Form eines kreischenden Kleinkindes losbrach, setzte plötzlich die Erinnerung an meine eigene Zeit als telefonierende Mutter mit Kindern wieder ein. Das ging etwa so: Kaum schellte der Apparat, kam der gesamte Nachwuchs aus den entlegensten Winkeln des Hauses angerannt. Manchmal waren sogar welche dabei, die ich noch nie gesehen hatte. Ich muss damals absolut fit gewesen sein, denn oft rettete mich nur ein beherzter Hechtsprung übers Wohnzimmersofa davor, dass einer meiner Sprösslinge als Erster den Hörer in die Hände bekam und in die Muschel quäkte: «s’Mami cha ned as Telefon cho, sie isch im Bad und rasiert sich d’Bei!»

Hatte ich diese mittlere Katastrophe glücklich abgewendet, stand aber keineswegs fest, dass ich nun mit dem Teilnehmer am anderen Ende ein ungestörtes Gespräch führen konnte. Mit dem Läuten des Telefons verwandelten sich meine Kinder in kleine, aufgezogene Affen, mit leicht überladenen Akkus. Hilflos an die Telefonschnur gefesselt (in den 80-ern gabs noch keine schnurlosen) und an die detaillierte Aufzählung aller Rückenbeschwerden meiner Schwiegermutter gekettet, hörte ich plötzlich Schubladen quietschen, Türen knallen und den Hund jaulen. Aus Richtung Küche schepperten Pfannen, im Bad splitterte Glas. Dann waberte der Geruch von Lösungsmitteln durch die Wohnung. Tranchiermesser blitzten und Mixer surrten. Die Nachbarskinder zogen mit Schwimmhilfen ausgestattet im Gänsemarsch an mir vorbei. Meine lieben Kleinen hatten im Kinderzimmer das Planschbecken mit Wasser gefüllt und turnten nun splitterfasernackt auf dem Balkon herum.

Mir blieb nichts anderes übrig als pantomimische Fähigkeiten zu entwickeln. Mit der Zeit konnte ich zum Beispiel mit Augenrollen, Zähnefletschen und Armrudern den Satz: «Ich geb’ dir gleich eins hinter die Löffel, wenn du dieses Messer nicht auf der Stelle wieder in die Küche bringst!», fehlerfrei pantomimisch darstellen, und das, während ich der Schwiegermutter Tipps für ihre Hühneraugen gab.

Fazit aus dieser Geschichte ist: 1. Es muss eine Mutter mit vier Kindern gewesen sein, die das schnurlose Telefon erfunden hat. Und 2. Beim Löschen meines Muttergedächtnisses war die Natur unverantwortlich nachlässig vorgegangen.

Yvonne Zollinger, Redaktorin «Volksstimme»

HERZBLUT

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