Ein Blick in den «Bau»

  16.08.2018 Sissach

Es liegt mitten im Wohnquartier, gleich neben einem Kinderspielplatz: das Sissacher Gefängnis. Die Zellen sind klein und miefig, die Insassen teils unbelehrbar. Die «Volksstimme» berichtet von einem Ort, den man freiwillig niemals aufsuchen würde.

Jan Amsler

Herr O. hat es sich im Gefängnis bequem gemacht: «Ich bin es gewohnt, eingesperrt zu sein.» Zusammengezählt 18 Jahre seines Lebens habe er bis jetzt hinter Gittern verbracht, erzählt er. Kürzlich hat er seinen 47. Geburtstag gefeiert. «Nein, ich habe nie einem Menschen etwas angetan», sagt der Slowake in gebrochenem Deutsch und zieht die Augenbrauen hoch. «Nur Ladendiebstähle und solche Sachen.»

Die Hände gefaltet, sitzt Herr O. am Tisch. In diesem Besprechungsraum im Gefängnis in Sissach verrichten die Häftlinge manchmal kleinere Arbeiten, sofern ein Unternehmen einen Auftrag erteilt. Der kleingewachsene, hagere Herr O. ist leicht nervös. Es ist ihm offenbar unangenehm, ausgefragt zu werden. Doch Reue sucht man bei ihm vergebens: «Ich finde keine Arbeit, was soll ich machen?» Seit Anfang Sommer und gemäss eigener Aussage bis im Herbst sitzt Herr O. ein. Ob es sein letzter Gefängnisaufenthalt sein wird? «Ich hoffe es.» Und ja, er wisse schon, sagt er nickend: Es liegt in seiner Hand. Neben Herrn O. sind aktuell 14 weitere Männer im Oberbaselbieter Knast einquartiert. Nur eine Einzelzelle ist im Moment frei. Die Straftaten, die von missachteten Rayon- oder Einreiseverboten über Diebstähle bis zu Drogendelikten reichen, haben sie in Basel-Stadt begangen. Das Gefängnis in Sissach ist bis voraussichtlich Ende 2020 an den Nachbarkanton vermietet. Dann nimmt die Stadt das «Bässlergut II» in Betrieb und hat dadurch wieder Kapazitäten. Im Gegenzug erhält das Baselbiet Ausschaffungsplätze in Basel.

Die meisten der in Sissach Inhaftierten sind im Kurzzeitvollzug, der in der Regel sechs bis zwölf Monate dauert. Einige aber warten darauf, in eine grössere Vollzugsanstalt wie jene in Lenzburg oder Thorberg versetzt zu werden. Diese Männer haben sich schwerere Straftaten zuschulden kommen lassen, beispielsweise versuchte Tötung.

Das Gefängnis ist an den Polizeiposten angebaut und liegt in einem Wohngebiet nahe der «Baadi», gleich neben einem kleinen Quartierspielplatz. Von dort aus blickt man direkt an die hohen Mauern des Innenhofs mit dem Stacheldraht und den Überwachungskameras. Dieses Bild ist aber dem Ende geweiht, denn die Tage des Sissacher Knasts sind gezählt. Die Baselbieter Regierung hat der Verwaltung Ende April den Auftrag erteilt, ein Projekt für ein neues Gefängnis mit rund 70 Plätzen auszuarbeiten. Der Neubau soll die drei kleinen, alten Gefängnisse in Sissach, Arlesheim und Laufen ersetzen. Erhalten bleiben jene in Liestal und Muttenz. Ein konkreter Zeitplan bestehe noch nicht, so Adrian Baumgartner von der Sicherheitsdirektion. Auch zur Standortwahl lasse sich noch nichts sagen.Was mit dem Gebäude in Sissach passieren wird, sei ebenfalls noch offen. Bedenkt man die Bauzeit des 2014 eröffneten Strafjustizzentrums in Muttenz, dürften noch gut und gerne zehn Jahre ins Land gehen, bis die Häftlinge umziehen müssen – wohin auch immer.

Grund für den Neubau ist die prekäre bauliche Situation in der Baselbieter Gefängnislandschaft. Die Standorte Sissach, Arlesheim und Laufen sind «erneuerungsbedürftig und für eine effiziente Betriebsführung eigentlich zu klein», wie der Kanton mitteilte. Sie sind meist zwischen 90 und 100 Prozent ausgelastet. Sie können wegen ihrer Lage weder erweitert noch «mit verhältnismässigem Aufwand an die heutigen Standards angepasst werden». Als sie gebaut wurden, ging es darum, vor allem Plätze für Polizei- oder Untersuchungshaft zur Verfügung zu haben. «Die Aufenthalte waren früher in der Regel deutlich kürzer, weshalb weder Zellengrösse noch Infrastruktur wichtige Faktoren waren», hält die Regierung fest.

«Bad Boys» und Zigarettenrauch
Die Zellen im 1970 erstellten und mehrfach ausgebauten Gefängnis von Sissach erfüllen gerade noch die Mindestgrösse. Ein «Einzelzimmer» misst sechs Quadratmeter und umfasst ein Bett mit Schaumstoffmatratze, ein Fenster, ein WC und ein Lavabo, einen kleinen Fernseher, einen Wasserkocher, einen Wäschesack und einen Tisch-Ventilator. Eine Klimaanlage gibt es nicht. Qualmen ist erlaubt. In den zwei Trakten auf den zwei Stockwerken riecht es nach kaltem Rauch. Doch das ist nicht der Hauptgrund dafür, dass man sich hier unwohl fühlt. Es ist das Geräusch, wenn die Aufsichtsperson das Tor schliesst. Und es ist der Häftling, der im Gang steht und einen ununterbrochen anstarrt. Er gefällt sich offensichtlich in seiner Rolle als «Bad Boy», als schlimmer Finger. Der Gefängnisleiter Pascal von Moos, der die «Volksstimme» durch das Gebäude führt, zeigt sich unbeeindruckt. Die Ärmel des karierten Hemds hochgekrempelt, geht er am Sträfling vorbei und erklärt den Aufbau des Gebäudes.

Zwölf Zellen sind auf die zwei Stockwerke verteilt: neun Einzel-, zwei Zweier- und eine Dreierzelle. Hinzu kommt eine «Notfall-Zelle». Diese dient der Disziplinierung und ist lediglich mit einer Matratze und einem Plumpsklo ausgestattet. Letztmals gebraucht wurde sie Anfang Jahr, erzählt von Moos. Ein Sträfling tobte. Bis zu seinem Abtransport – wenn es gar nicht geht und ein Häftling für zu viel Aufruhr sorgt, kann ihn von Moos nach Basel zurückschicken – musste er in der Notfall-Zelle ausharren. Grössere Zwischenfälle oder Ausbruchsversuche hat von Moos, der das Gefängnis seit vier Jahren leitet, aber nicht erlebt. Den letzten gröberen Vorfall gab es 2010, also noch vor seiner Zeit: Ein Insasse steckte seine Zelle in Brand.

Jeweils zuhinterst im schmalen Trakt befindet sich die Dusche. Ebenfalls zur Infrastruktur zählt ein Telefon pro Stockwerk. Weil die Swisscom ihr «Publifon» einstellt, muss hier eine Lösung her.

Handys – beliebte Schmuggelware
Die Fenster der Zellen zeigen zum von Gittern überdeckten Innenhof. Zwei Stunden pro Tag, von 14 bis 16 Uhr, stehen den Häftlingen zur Verfügung, um entweder Besucher zu empfangen oder sich im Spazierhof auszutoben. Das ist länger als in anderen Gefängnissen. Die beiden Besucherräume sind nicht überwacht. Ein Problem bildet die Zugangskontrolle: «Bei der Kontrolle von Frauen gibt es Grenzen», so von Moos. Daher kommt es gelegentlich vor, dass unerlaubte Gegenstände hineingeschmuggelt werden. Beliebt seien etwa Handys. Für den sportlichen Zeitvertreib stehen im Innenhof ein paar Fitnessgeräte, ein Stofffussball, zwei Unihockeytore und ein Pingpong-Tisch bereit. «Manchmal veranstalten die Insassen ein Turnier.» Und nein, Ärger habe es beim Sport noch nie gegeben.

Morgenessen gibt es jeweils um 7.30 Uhr. Gleichzeitig erfolgt die sogenannte Lebenskontrolle – die Prüfung, ob die Insassen am Leben sind. Zwischen 8 und 10.30 Uhr stehen die Zellen offen. In dieser Zeit finden Einvernahmen, Ärzte- und Anwaltsbesuche statt und die Häftlinge können sich auf dem Stockwerk frei bewegen. Danach gibt es bereits das Mittagessen in der Zelle. Um 13.30 Uhr wird wieder aufgeschlossen, bevor der Anpfiff für das gefängnisinterne Fussballspiel im Hof erfolgt. Um 16 Uhr steht Duschen auf dem Programm. Es darf allerdings immer nur einer in der Nasszelle sein. Nachtessen gibt es um 16.30 Uhr. Dann ist die Zelle wieder geschlossen bis am nächsten Morgen. Hungern müssen die Häftlinge in der Zwischenzeit aber nicht. Sie dürfen jeweils Snacks, aber auch Zigaretten bestellen. Wer kein eigenes Vermögen hat, erhält pro Woche vom Staat 10 Franken gutgeschrieben, bis das maximale Guthaben von 30 Franken erreicht ist. Wenn Arbeit ansteht, schaut Pascal von Moos, dass in erster Linie die mittellosen Insassen zum Zug kommen, damit sich diese etwas verdienen können.

«Gewisse Kälte nötig»
Der 41-jährige von Moos ist gelernter Zimmermann. Nach der Rekrutenschule suchte er sich eine «spezielle Herausforderung», wie er sagt. Da er sich in eine Baselbieterin verliebt hatte, zog es den Innerschweizer in den Nordwesten. Er meldete sich auf ein Inserat des Basler Gefängnisses Waaghof und bekam die Stelle. Dort hatte er sich weitergebildet bis zum Gefängnisleiter, ehe er nach Sissach wechselte. Seit 18 Jahren ist er nun im Baselbiet wohnhaft. Wenn der Neubau realisiert ist und «sein» Gefängnis die Tore schliesst, will er in der Branche bleiben.

In der Regel arbeitet von Moos von 6.30 bis 18 Uhr. Gelegentlich kommt ein Nachtdienst dazu, ab und zu hat er Pikettdienst. Während der Hälfte seiner Arbeitszeit ist er für die Betreuung der Gefangenen zuständig. Das restliche Pensum wendet er für die Leitung auf. Vier Personen arbeiten insgesamt für das Gefängnis, zusammen haben sie 380 Stellenprozente inne. Die Unterhaltskosten für den Knast belaufen sich auf jährlich 1 Million Franken. Ein Häftling schlägt mit rund 200 Franken pro Tag zu Buche.

«Eine gewisse Kälte braucht es schon», sagt von Moos über seinen Job. Die psychische Belastung ist gross. Herausfordernd für den Vater dreier Töchter sei etwa, wenn ein Sträfling seine Kinder vermisse, diese ihn aber nicht besuchen können, zum Beispiel, weil sie im Ausland leben. Doch insgesamt könne er sich gut distanzieren. Mit dem Austritt eines Insassen verschwindet auch der Bezug zur Person. Was bleibt, ist höchstens die nette Erinnerung, wenn sich einer beim Austritt dafür entschuldigt, dass er die Hausregeln ausgereizt hat. Dass ihm ein Ex-Häftling über den Weg läuft, ist nicht ausgeschlossen. So ist beispielsweise schon vorgekommen, dass von Moos bei einem privaten Nachtessen im Restaurant vom Koch angesprochen worden ist, der unter ihm eingesessen hatte. Freundschaften unter den Häftlingen seien kaum von Bestand, erzählt von Moos: «Es handelt sich vor allem um zweckmässige Beziehungen.» Von Moos hat in seiner fast zwei Jahrzehnte langen Gefängniserfahrung insbesondere festgestellt, dass sich der Blick auf die Insassen verändert hat: «Betrachtete man die Häftlinge früher vor allem als Verbrecher und Weggesperrte, fokussiert man heute verstärkt den Menschen.» Es gelte aber, den Spagat zu schaffen zwischen Bestrafung und Verständnis. «Der Umgang mit den Häftlingen darf nicht zu einer Kuschel-Justiz verkommen», stellt er klar.

Die Hauptverantwortung des Gefängnisleiters von Moos liegt darin, dass die Verurteilten ihre Strafen absitzen. Ein wichtiger Teil des Justizvollzugs ist aber auch die Resozialisierung: «Wir zeigen den Insassen auf, dass nur der straffreie Weg der richtige ist.» Ernüchternd ist der Blick auf Herrn O. Wie es nach seiner Entlassung weitergeht, ist unklar. Angesichts seiner Haltung – «Ich finde keine Arbeit, was soll ich machen?» – ist nicht ausgeschlossen, dass sich dereinst ein weiterer Gefängnisleiter um den Slowaken kümmern muss.


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