«Es gibt kein generelles Besuchsverbot»
12.01.2021 BaselbietGabriele Marty, Leiterin Abteilung Alter im Amt für Gesundheit, über Corona in Altersheimen
Gabriele Marty befasst sich mit der Krise, die im Kanton Baselland durch die Pandemie bei den älteren Menschen ausgelöst wurde, insbesondere in den Alters- und Pflegeheimen, aber auch mit den ...
Gabriele Marty, Leiterin Abteilung Alter im Amt für Gesundheit, über Corona in Altersheimen
Gabriele Marty befasst sich mit der Krise, die im Kanton Baselland durch die Pandemie bei den älteren Menschen ausgelöst wurde, insbesondere in den Alters- und Pflegeheimen, aber auch mit den Arbeitsbedingungen der Pflege.
Andreas Bitterlin
Frau Marty, das Besuchsverbot in Alters- und Pflegeheimen wird kontrovers diskutiert. Was wiegt mehr: Der Schutz vor Infektionen durch Isolation und Besuchsverbot oder die Lebensqualität, die Kontakte mit Besuchenden beinhaltet?
Gabriele Marty: Im Frühjahr, als wir noch keine Erfahrungen hatten im Umgang mit der Pandemie, hat der Regierungsrat zum Schutz der vulnerablen pflege- und betreuungsbedürftigen älteren Menschen in Alters- und Pflegeheimen als Sofortmassnahme ein generelles befristetes Besuchsverbot verhängt. In der Zwischenzeit haben wir das Ganze analysiert und sind zum Schluss gekommen, dass dies nicht die beste Lösung ist. Natürlich muss der Schutz immer noch gewährleistet sein, aber das Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz auf der einen Seite und auf der anderen Seite den psychischen und emotionalen Bedürfnissen, die der ältere Mensch hat, bedarf einer differenzierten Regelung aufgrund der aktuellen Situation.
Wie stellt sich die momentane Situation konkret dar bezüglich Besuchsverbot?
Es gibt kein generelles Besuchsverbot, aber in einzelnen Einrichtungen mit akuten Covid-19-Ausbrüchen gibt es zurzeit ein befristetes Besuchsverbot.
Gibt es technische Möglichkeiten, die ermöglichen, dass Besuche und die Kommunikation risikolos stattfinden können?
Es gibt viele Lösungen, von Besuchsboxen bis zum Gespräch von Balkon zu Garten. Jetzt im Winterklima ist Letzteres allerdings nicht immer möglich. Es gibt auch digitale Möglichkeiten. Viele Heime unterstützen die Bewohnerinnen und Bewohner digital im Kontakt mit den Angehörigen. Da gibt es aber Grenzen bei Menschen, die sehr stark seh- oder hörbehindert sind. Dort, wo es das Infektionsgeschehen erlaubt, sind auch Besuche möglich, selbstverständlich unter Einhaltung der Schutz- und Hygienevorschriften.
Sowohl von den Akutspitälern als auch von den Heimen hört und liest man, dass das Pflegepersonal bei der Belastung enorm gefordert und am Anschlag sei. Wie beurteilen Sie die Situation?
Die Pflege- und Betreuungskräfte, aber auch das Reinigungspersonal oder Mitarbeitende, die für das Essen zuständig sind beispielsweise, leisten einen sehr grossen Einsatz unter schwierigen Bedingungen. Dies bringt das Personal an den Anschlag. Bestimmte in dieser Krise notwendige Massnahmen führen zu Mehrbelastungen, zum Beispiel, dass das Personal bei einem Covid-19-Ausbruch nicht auf verschiedenen Abteilungen arbeiten kann und etwa eine Abteilung separat bedient werden muss, damit weitere Infektionen vermieden werden können. Dazu kommt, dass auch Mitarbeitende angesteckt oder in Quarantäne sind. Das verschärft die Personalengpässe.
Gibt es in Baselland wie teilweise anderswo Situationen, in denen infizierte Personen weiter arbeiten müssen?
Das gibt es im Baselbiet nicht. Wer infiziert ist, bleibt zu Hause in Isolation, und Menschen, die mit ihnen in Kontakt waren, müssen in die Quarantäne. Es gibt keine Weisung, dass Infizierte arbeiten müssen.
Fachleute sprechen davon, dass ein Pflegenotstand droht. Bis 2030 sollten pro Jahr 6000 Pflegefachleute ausgebildet werden, es sind zurzeit aber nur 3000.
Das ist eine echte Problematik. In unserer Grenzregion profitieren wir von Fachpersonen aus dem grenznahen Ausland, aber die Lösung muss trotzdem sein, dass die Ausbildungsbemühungen in der Schweiz verstärkt werden. Der Baselbieter Landrat hat im Gesetz über Betreuung und Pflege im Alter schon 2018 aufgenommen, dass wir grundsätzlich die Betriebe verpflichten können, zusätzliche Anreize zu schaffen, damit mehr Lehrlinge rekrutiert werden können.
Bei Anreizen ist auch die Entlöhnung ein Thema. Hat der Kanton Baselland die Möglichkeit, monetäre Anreize zu schaffen?
Das ist eine Angelegenheit zwischen den Tarifpartnern im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen.
Der Kanton Baselland hat neu eine Impfaktion für Alters- und Pflegeheime initiiert. Befürworten Sie eine Verpflichtung zum Impfen für alte Menschen?
Ich bin sehr froh, dass es nun eine wirksame Impfung gegen die Erkrankungen gibt, welche das aktuelle Coronavirus verursacht. Von einer Impfpflicht halte ich nichts. Es sollte ein freiwilliger Entscheid jeder Person bleiben, ob er oder sie sich impfen lassen möchte.
Christoph Eymann brachte im Nationalrat in einem Vorstoss die Idee ein, dass vermehrt Zivildienstleistende in den Heimen eingesetzt werden könnten. Wäre dies eine praktikable Lösung zur Entspannung der Engpässe?
Im Moment sind über den Baselbieter Krisenstab Zivilschutzkompanien im Einsatz in Alters- und Pflegheimen, die dort kurzfristig entlasten können. Aber: Sie sind mangels notwendiger Ausbildung nicht in der Pflege im Einsatz, sondern es ist eine Entlastung in der Betreuung. Sie sind wertvoll auf der Ebene der persönlichen Kontakte mit den älteren Menschen.
Menschen, die nicht ins Altersheim möchten, sich zu Hause aber nicht allein zurechtfinden, sind auf Betreuung und Unterstützung angewiesen, oft von Verwandten. Rund 190 000 Personen leisten in der neben ihrer Erwerbstätigkeit Betreuungsarbeit. Dadurch kommt oft die notwendige Erholungszeit zu kurz. Müssten solche Unterstützungen finanziell abgegolten werden?
Da muss ich auf die Aufgabenteilung im Baselbiet zwischen Kanton und Gemeinden eingehen. Grundsätzlich gehört die Alterspflege und -betreuung ins Aufgabenportfolio der Gemeinden. Und deshalb liegt konsequenterweise das Schaffen derartiger finanzieller Anreize für pflegende Angehörige in der Kompetenz der Gemeinden. Es geht da um eine namhafte Anerkennung, aber die Finanzen reichen nicht für einen eigentlichen Erwerbsersatz.
Inzwischen wird für das Leben im eigenen Zuhause auch Unterstützungspersonal in Osteuropa rekrutiert, das wesentlich günstiger sein kann. Es wird auch für längere Arbeitszeiten und etwa andauernde 24-Stunden-Aufgaben eingesetzt.
Bei diesen ausländischen Arbeitskräften, den sogenannten «Care-Migranten», geht es hauptsächlich um die Betreuung und nicht um die professionelle Pflege, die sie nicht anbieten dürfen, wenn sie nicht dafür ausgebildet sind. Diese Personen, es sind mehrheitlich Frauen, haben das Recht auf das Einhalten der arbeitsrechtlichen Vorgaben. Ein andauernder 24-Stunden-Einsatz ist selbstverständlich nicht korrekt. Da sind die Organisationen, die dieses Personal vermitteln, auch in der Pflicht und in der Verantwortung.
Die Caritas ist in diesem Sektor sehr professionell und sozial engagiert. Kann auch der Kanton eingreifen, wenn das Arbeitsrecht missachtet wird?
Ja, zuständig ist das kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Kiga).
In den sozialen Medien kann man von jüngeren Personen lesen, dass sie die Risikogruppe der älteren Menschen völlig isoliert haben möchten, damit sie selbst keine Einschränkungen befolgen müssen. Leidet die Solidarität der Jungen mit den Älteren durch Corona?
In der ersten Welle stand viel Solidarität im Vordergrund. Jetzt, in der zweiten Welle, gibt es vermehrt Schuldzuweisungen. Es wäre aber nicht denkbar und ethisch nicht vertretbar, ganze Gruppen einfach wegzusperren, und es wäre schlicht und einfach auch nicht machbar. Man müsste ja jüngere Menschen, die mit älteren zusammenleben, konsequenterweise auch wegsperren. Solche Aussagen sind wahrscheinlich eher der eigenen Frustration geschuldet als einem vertieften Nachdenken.
Das Statistische Amt Basel-Landschaft prognostiziert eine Verdoppelung der Über-80 Jährigen in unserer Gesellschaft bis ins Jahr 2045. Welche Konsequenzen hat dies für die Alters- und Pflegeheime?
Wir benötigen künftig neue Organisationsformen und Strukturen weg vom Grundsatz, dass alle alles machen müssen. Kleine Gemeinden sind nicht in der Lage, die ganze Versorgung sicherzustellen. Und nicht jedes Heim braucht eine Abteilung für sehr demente Menschen. Deshalb fordert der Gesetzgeber jetzt Versorgungsregionen. Innerhalb dieser Regionen muss dann definiert werden, was wo in welcher Form benötigt wird.
Werden auch neue Formen der Pflege und Betreuung entstehen?
Wir arbeiten zurzeit beispielsweise an einem Pilotprojekt, um den Einsatz der Spitex in der Nacht zu testen. Dann gibt es die sogenannten intermediären Formen. Man kann damit länger zu Hause wohnen, weil man sich modulare Dienstleistungen einkaufen kann, zum Beispiel von einem Heim, aber auch von anderen Anbietern wie dem Roten Kreuz. Baselland hat eine gute Versorgung und dazu müssen wir Sorge tragen. Das heisst: Die Pflege und Betreuung immer entwickeln.
Zur Person
ab. Gabriele Marty, geboren am 8. August 1966 in Stuttgart/Deutschland, ist seit 20 Jahren im Kanton Basel-Stadt wohnhaft und seit 13 Jahren in der Baselbieter Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektion tätig. Aktuell ist sie Leiterin der Abteilung Alter des Amts für Gesundheit. Ihr Studium in Tübingen und Zürich schloss sie als diplomierte Psychologin und mit einem Master in Non-Profit-Management ab. Mit CAS in Gerontologie (Universität Zürich) und Gesundheitsökonomie (Fachhochschule Winterthur) hat sie sich zusätzlich weitergebildet.
Marty ist verheiratet und Mutter einer erwachsenen Tochter. In ihrer Freizeit geht sie gerne segeln, Ski fahren und auf Reisen.