«Wir wurden ermuntert, es zu probieren»
03.12.2020 Baselbiet, Gelterkinden, Gemeinden, Politik, SissachLaura Grazioli und Stefan Degen wollen mehr Eigenständigkeit für Gemeinden
Laura Grazioli (Grüne) und Stefan Degen (FDP) möchten bei der Gemeindeautonomie einen Schritt weiter gehen. Sie wünschen sich klare Zuständigkeiten und für die Gemeinden die Instrumente, um ihre Aufgaben ...
Laura Grazioli und Stefan Degen wollen mehr Eigenständigkeit für Gemeinden
Laura Grazioli (Grüne) und Stefan Degen (FDP) möchten bei der Gemeindeautonomie einen Schritt weiter gehen. Sie wünschen sich klare Zuständigkeiten und für die Gemeinden die Instrumente, um ihre Aufgaben freier umsetzen zu können.
Christian Horisberger
Die «Charta von Muttenz» von 2012 und Anton Laubers Verfassungsauftrag Gemeindestärkung (Vags) haben zum Ziel, den mehr Autonomie zu verleihen. Das geht Ihnen, Frau Grazioli und Herr Degen, aber nicht weit genug. Sie haben ein Vorstosspaket geschnürt – die «Volksstimme» berichtete darüber – das die Gemeinden stärken soll. Was trieb Sie an?
Laura Grazioli: Stefan Degen und ich stellten im Austausch fest, dass wir auf Gemeindeebene ähnliche Herausforderungen sehen, die einen Bezug zur kantonalen Ebene haben. Wir diskutierten darüber in einer erweiterten Arbeitsgruppe mit Gemeindekommissionsmitgliedern unserer Dörfer. Aus dem Versuch, zu erfassen, woher gewisse Widerstände und Schwierigkeiten stammen, resultierte das Vorstoss-Paket.
Stefan Degen: Mir wurde nach meinem Start als Landrat bewusst, dass sich das Kantonsparlament und die Regierung eher auf Augenhöhe befinden als der Gemeinderat und die Gemeindeversammlung. Das Wissen des Gemeinderats ist im Gegensatz zu dem der Bevölkerung relativ gross. Wenn man von mehr Gemeindeautonomie spricht, dann steigt ja zuerst einmal die Macht der Gemeinderäte noch mehr an. Da ist fraglich, ob die Bevölkerung damit zufriedener ist als heute.
Sie, Herr Degen, präsidieren interimistisch den Gelterkinder Gemeinderat, Frau Grazioli, Sie gehören der Sissacher Gemeindekommission an. Gleichzeitig sind Sie Landräte und Mitglieder der parlamentarischen Finanzkommission. Welchen Hut tragen Sie bei Ihren Vorstössen?
Grazioli: Viele unserer Anliegen sind im kantonalen Gemeindegesetz geregelt. In Bezug auf die Vorstösse haben wir sicher den Hut der Kantonspolitiker auf, in Bezug auf die Inhalte sicher auch den kommunalen.
Sie haben bei Ihren Vorstössen die Form des Postulats gewählt. Anstatt zu fordern, stellen Sie Fragen.
Degen: Wir haben ja auch noch keine konkreten Forderungen, sondern nur ein breites Spektrum an Fragen, die uns bisher noch niemand, auch nicht amtsältere Landräte, haben beantworten können. Entweder hielt man es nicht für relevant oder wusste keine Antwort. Wir erhielten von der Stabsstelle für Gemeinden zu mehreren Punkten unserer Vorstösse das Signal: «Interessant; müsste man einmal vertieft betrachten».
Als Vorsteher der Stabsstelle hat Regierungsrat Anton Lauber den Vags initiiert: Frau Grazioli, Sie verlangen drei Jahre nach dem Start von Vags einen Zwischenbericht. Zweifeln Sie dessen Wirksamkeit an?
Grazioli: Wir begrüssen die Vags-Projekte und stellen diese nicht infrage. Doch ist die Umsetzung unseres Erachtens nicht ausreichend, um alle Aspekte der Gemeindeautonomie und -demokratie zu erfassen. Insbesondere die Themen der Mitwirkungsrechte der Bevölkerung sind damit nicht abgedeckt. Es ist notwendig, zu überprüfen, ob die Mechanismen zu allen Gegebenheiten, die sich über die Jahrzehnte verändert haben, noch angemessen sind.
Degen: Es ist gewiss eine Verbesserung, dass der Kanton die Gemeinden bei den Vags-Projekten stark einbindet. Das ist ein Schritt weiter als vorher, als der Landrat einen Beschluss fasste und es damit entweder gut war, oder jemand dagegen Unterschriften sammelte. Am Ende kann die einzelne Gemeinde jedoch immer noch nicht für sich entscheiden, ob sie einen Entscheid umsetzen oder es anders machen möchte. Alle 86 Gemeinden, von Anwil bis Allschwil, unabhängig von ihrer Grösse, Struktur und Lage, müssen das Gleiche tun. Ich meine aber: Wenn schon Autonomie, dann muss man von der Zentralisierung wegkommen und mehr Wahlfreiheit schaffen.
Bedeutet mehr Autonomie für die auch, dass sie freier über die eigenen Mittel verfügen können?
Grazioli: Nicht unmittelbar. Im Postulat der fiskalischen Äquivalenz geht es nicht primär darum, über mehr Geld bestimmen zu können. Es geht um die Frage, wer welche Aufgaben hat und dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt erhält. Es geht hier um ein Analysieren und Entflechten. Je nach Ergebnis könnte das in einem zweiten Schritt zu mehr finanzieller Freiheit der Gemeinden in einzelnen Bereichen führen.
In jenem Postulat sind Ausgleichszahlungen des Kantons an die Gemeinden für die sechsten Primarklassen als Beispiel genannt. Welche Rolle spielen die Primarschulen bei der Frage zu mehr Gemeindeautonomie?
Degen: Ich bin hier hin- und hergerissen. Ich finde, es muss irgendwo konsequent sein. Das ist es im Moment nicht. Der Kanton bestimmt über die Qualifikation der Lehrpersonen, die Löhne, den Lehrplan, dennoch liegt die Verantwortung bei den Gemeinden. Der Anspruch, eine Primarschule zu führen, ist sehr hoch. Daher frage ich mich, ob es nicht richtig wäre, wenn auch die Primarschulen in der Verantwortung des Kantons lägen.
Damit stechen Sie in ein Wespennest.
Degen: Der Gedanke mag der föderalen Idee widersprechen, aber was an der heutigen Primarschule ist denn noch Gemeindeautonomie? Wir können heute vielleicht noch die Hauswarte stellen und entscheiden, in welche Himmelsrichtung ein Schulhaus-Neubau ausgerichtet ist. Die Grössen der Klassenzimmer wiederum sind vorgegeben. Wo ist denn noch unser Gestaltungsfreiraum?
Grazioli: Das ist ein gutes Beispiel für einen Bereich, dessen Komplexität in den vergangenen Jahrzehnten exorbitant gewachsen ist, an dessen Strukturen man jedoch nicht gerüttelt hat.
Wer soll Ihrer Ansicht nach für die Schulen verantwortlich sein, Frau Grazioli?
Grazioli: Ich bin da bei Stefan: Ich sehe das pragmatisch und unaufgeregt. Aber es geht uns bei unseren Vorstössen nicht explizit um die Primarschule, sondern um den grösseren Kontext.
Degen: Genau. Zunächst sollte geklärt werden, was auf welcher Staatsebene stattfinden soll. Und dort, wo die Gemeinde zuständig ist, soll sie mehr Autonomie erhalten.
Besonders ins Auge sticht beim Vorstosspaket Ihr Transparenz-Postulat, Herr Degen. Sie wollen prüfen lassen, wie den Gemeindebehörden – also auch dem Gemeinderat – besser auf die Finger geschaut werden könnte: Machen Sie sich damit das Leben als Gemeinderat nicht unnötig schwer?
Degen: Das ist nicht die Idee. Im Moment schaut uns der Kanton recht stark auf die Finger. Wir müssen Berichte und Reglemente zur Vorprüfung und Genehmigung nach Liestal schicken, die Jahresrechnung müssen wir ebenso einreichen. Wir befinden uns in einem engen Korsett. Die Frage lautet: Ist es die Aufgabe des Kantons, über uns zu wachen, oder sollen das nicht eigene Legislativkommissionen der Gemeinden übernehmen? Wir erwarten, dass, wenn die Mitsprache solcher Gremien höher ist, der Kanton die Aufsichtspflicht mehr in Gemeindehand geben sollte. Es geht bei dem Vorstoss nicht um eine intensivere Kontrolle der Gemeindebehörden, sondern um eine Verlagerung der Kontrolle vom Kanton zur Gemeinde. Die Transparenz, die wir fordern, ist eine Basis dafür, dass die demokratische Rechenschaftspflicht vermehrt auf Gemeindeebene wahrgenommen werden kann.
Solche Aufgaben erfordern auch ein hohes Mass an Kompetenz. Ist das nötige Know-how in den Gemeinden vorhanden?
Grazioli: Es gibt in den Gemeinden grosse Unterschiede, und mancherorts wäre es zweifellos schwierig, die Kompetenzen aufzubauen. Es geht uns aber gar nicht darum, für alle Gemeinden eine einheitliche Reglung zu finden, sondern darum, grösstmögliche Freiheiten zu schaffen für diejenigen, die es stemmen wollen und können. Wer nicht interessiert ist, soll solche Leistungen, wie das heute beispielsweise schon bei den Steuern der Fall ist, beim Kanton oder bei anderen Gemeinden einkaufen dürfen.
Wie kam der Vorstoss zur Transparenz bei anderen Landrätinnen und Landräten an?
Grazioli: Vereinzelte Parlamentarier, die in Gemeindebehörden mitwirken, interpretierten die Vorstösse dahingehend, dass wir die Kompetenzen der Gemeinderäte beschneiden wollen, was ja nicht die Absicht ist. Es geht in keinster Weise um Kritik an Gemeindebehörden, sondern darum, die Kontrolle auf die Ebene zu holen, die dem direktdemokratischen System entsprechen würde.
Degen: Es gab unterschiedliche Reaktionen von Gemeindevertretern im Landrat, von reserviert bis sehr positiv und motivierend.
Grazioli: Wir hörten auch, dass die Gemeindeautonomie seit Ewigkeiten ein Thema sei, man im sehr zentralistischen Baselbiet aber immer wieder gescheitert sei. Wir wurden ermuntert, den Versuch zu starten.
Was hält Anton Lauber von Ihrem Engagement für mehr Gemeindeautonomie?
Degen: Wie er halt so sagt: «Wir schauen das einmal an.»
Grazioli: Ich bin sicher, dass von Lauber eine konstruktive Antwort kommen wird. Ich schätze seine Herangehensweise und sein Demokratieverständnis, das aktuell in der Vorlage «Urnenabstimmung anstatt Einwohnergemeindeversammlung» zum Ausdruck kommt.
Stichwort Gemeindeversammlung: Mit einem obligatorischen Initiativrecht und obligatorischen Urnenabstimmungen, die Sie prüfen lassen wollen, ritzen Sie die Gemeindeversammlung als höchstes Entscheidungsgremium auf Gemeindeebene.
Grazioli: Es geht bei den obligatorischen Urnenabstimmungen nicht um eine Beschneidung der Einwohnergemeindeversammlung (EGV), sondern um das Erwirken eines repräsentativen Entscheids, für den Fall, dass die EGV nicht das richtige Gremium ist. Dies beispielsweise bei einem Mehrfachturnhallenprojekt, bei dem eine Interessengruppe mobilisiert und ein Abstimmungsergebnis erwirkt, hinter dem die Gesamtbevölkerung nicht stehen würde, wie das jüngst in Frenkendorf der Fall war. Mit einer Urnenabstimmung würde die Bevölkerung gestärkt, nicht die Gemeindeversammlung geschwächt.
Gegen solche «Mobilisierungsentscheide» an der Gemeindeversammlung kann das Referendum ergriffen werden. Grazioli: Aber dafür muss man Unterschriften sammeln gehen.
Und es steht heute jeder Gemeinde frei, das Initiativrecht einzuführen …
Grazioli: … mit der Hürde einer Einführungsinitiative allerdings. Die Frage lautet, ob es nicht sinnvoll wäre, das Initiativrecht generell auf Gemeindeebene einzuführen.
Muss die Gemeindeversammlung modernisiert werden?
Grazioli: Nicht direkt. Es ist nicht unsere Absicht, an der Gemeindeversammlung an sich zu kratzen, denn diese Institution ist tief bei der Bevölkerung verankert und hat ihre Berechtigung. Aber es sollten Möglichkeiten geschaffen werden, die den modernen Umständen Rechnung tragen. In Gemeinden mit Tausenden von Einwohnern und unterschiedlichsten Bedürfnissen ist es schlicht nicht realistisch, dass alle Interessen vertreten sind. In manchen Fragen mit einer gewissen Tragweite soll eine Urnenabstimmung möglich sein.
Degen: Beim im Landrat hängigen Thema Urnenabstimmung wegen Covid-19 stellt sich bereits die Frage, was höher zu gewichten ist: das Antragsrecht während der direkten Auseinandersetzung, was nur an der Gemeindeversammlung möglich ist, oder eine höhere Stimmbeteiligung durch die Urnenabstimmung. Was davon mehr wert ist, ist Ansichtssache.