Die Halle steht den Eltern der jungen Turnenden immer offen
12.11.2020 SportKunstturnen | Essstörungen und psychischer Druck: Das NKL war schon vor den jüngsten Enthüllungen bemüht, dass in Liestal Zustände wie in Magglingen ausgeschlossen sind
Die «Magglingen-Protokolle» erschüttern die Kunstturn-Szene. Im regionalen Leistungszentrum ...
Kunstturnen | Essstörungen und psychischer Druck: Das NKL war schon vor den jüngsten Enthüllungen bemüht, dass in Liestal Zustände wie in Magglingen ausgeschlossen sind
Die «Magglingen-Protokolle» erschüttern die Kunstturn-Szene. Im regionalen Leistungszentrum in Liestal sind sich die Trainer der Verantwortung gegenüber den jungen Sportlerinnen bewusst, und es bestehen Regeln.
Jürg Gohl
Nein. Überrascht sei er nicht gewesen. Als Thomas Rutishauser am 31. Oktober im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» die Enthüllungen über die Zustände im Training der besten Kunstturnerinnen und Athletinnen der Rhythmischen Gymnastik las, wusste er, was ihn inhaltlich ungefähr erwarten dürfte. Dass zwei Journalisten am Recherchieren sind, hat sich bei den Insidern der nationalen Kunstturn-Szene längst herumgesprochen. Erschienen ist die Schock-Reportage ausgerechnet am Tag der Abgeordneten-Versammlung des Schweizerischen Turnverbands (STV), die aber wegen Corona abgesagt wurde.
Diesen Insidern gehört Rutishauser seit mindestens sieben Jahren an. Damals stiess er als Geschäftsleiter zum Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrum in Liestal, besser bekannt unter seinem Kürzel NKL. Das NKL ist ein regionales Leistungszentrum des STV in den drei Bereichen Kunstturnen Männer, Kunstturnen Frauen und Trampolin. Als Athletenbetreuer hatte Rutishauser aber bereits zuvor mit dem Kunstturnen und dem NKL auf Du und Du gestanden. Überrascht hat den Geschäftsleiter höchstens der Zeitpunkt des Erscheinens, weil der angegriffene Schweizerische Turnverband (STV) eine neu geschaffene Ethik-Kommission beauftragt hat, die bereits bekannten Vorwürfe zu untersuchen. «Ich will die gemachten Aussagen keinesfalls in Zweifel ziehen oder abschwächen», sagt Rutishauser, «aber ich hoffe, dass sie damit einen Stein ins Rollen gebracht haben, der nachhaltig etwas bewirkt.»
Ethik-Charta eingehalten?
Er kann sich leicht erklären, weshalb die Vorwürfe allesamt von jungen Frauen stammen. «Gerade das Frauenkunstturnen ist eine Mädchen-Sportart. Junge Männer kommen mit 17 oder 18 Jahren nach Magglingen, Frauen bereits mit 13 oder 14, also sehr jung.»
Emanuel Senn, einst Spitzenturner des NKL und heute dort Leiter des Bereichs Spitzensport, sagte in einem «Volksstimme»-Interview bereits im Sommer, dass er hinter die extremen körperlichen Positionen gerade in der Rhythmischen Gymnastik (RG) ein Fragezeichen setze. Er frage sich, ob internationaler Erfolg «unter Einhaltung unserer Ethik-Charta überhaupt möglich» sei. Und er ist damit bei Weitem nicht der Einzige, der RG eine düstere Zukunft voraussagt.
Im gleichen Gespräch sagt Senn, dass er Kinder und Eltern immer wieder klarmachen müsse, dass gerade im Kunstturnen Leistungssport kein Gesundheitssport sei. Als Beispiel zieht er den Spagat herbei, die Grundlage vieler Elemente und auch deshalb wichtig, weil er Verletzungen vorbeugt. «Aber das Üben ist zeitweise schmerzhaft», sagt er. Dass im Training bisweilen auch Tränen fliessen, die nicht auf körperliche Schmerzen zurückzuführen sind, gibt Rutishauser zu. «Wir reden von Leistungssport; Athletinnen und Trainer stehen unter Druck, wollen sportlichen Erfolg und reagieren entsprechend, wenn in einem Training mal nicht alles so läuft, wie es laufen sollte», erklärt er.
Regelmässiger Austausch
Im NKL wird alles vorgekehrt, um Entgleisungen wie in Magglingen zu verhindern. Im Gegensatz zum nationalen Sportzentrum, wo die Kunstturnerinnen sinnigerweise in einer Halle namens «Ende der Welt» trainieren, sind in Liestal die Eltern – ausser in Corona-Zeiten – auf der Zuschauertribüne ausdrücklich willkommen.
Dem Trainerteam ist es untersagt, die Garderobe der Turnerinnen und der Turner zu betreten. Rutishauser und Senn strecken regelmässig ihre Nasen in die Halle, um die allgemeine Stimmung wahrzunehmen. Beendet jemand die Karriere im Leistungssport, gehört ein offenes, vertrauliches Abschlussgespräch dazu, und die Umgangsformen sind auch ein Fixpunkt der regelmässigen Standort-Gespräche. Ethik und der verbale Umgang würden mit den Trainern regelmässig thematisiert, sagt Senn.
Seit mehr als sieben Jahren arbeitet Rutishauser im Nordwestschweizerischen Kunstturnund Trampolinzentrum, doch sei ihm noch nie ein Vorwurf zu Ohren gekommen, der an die Schilderungen der Sportlerinnen aus Magglingen in dieser Deutlichkeit auch nur annähernd heranreiche, beteuert der Geschäftsleiter. Auf die «Magglingen-Protokolle» haben die NKL-Verantwortlichen gleichwohl sogleich eine Sitzung sowie auf vergangenen Donnerstag ein Gespräch mit den Eltern einberufen.
Der Austausch mit den Eltern ist den Verantwortlichen gerade in der aktuellen Zeit sehr wichtig. «Dieser Elternabend verlief sehr konstruktiv und offen. Den einen oder anderen Input nehmen wir gerne auf, um die gegenseitig wichtige und notwendige Vertrauensbasis weiter zu festigen», berichtet Rutishauser.
Im Gegensatz zum STV ist beim Baselbieter Turnverband (BLTV) der Bereich Spitzensport an das NKL ausgegliedert, auch wenn keine Berührungsängste bestehen. Deshalb beschäftigen die Magglinger Ereignisse den BLTV-Präsidenten, den Sissacher Martin Leber, sehr. Leber ist im OK der Kunstturn-EM im kommenden April in Basel (siehe Artikel «Ausgerechnet vor der Heim-EM»). «Die Öffentlichkeit differenziert kaum und wirft uns Breitensportler mit dem Spitzensport in einen Topf», sagt er. «Es ist eine alte Weisheit: Breitensport dient der Gesundheit, Spitzensport ist ihr weniger zuträglich.»
Leber möchte sich aber nicht nach Opportunisten-Art vom Spitzensport vornehm distanzieren. Er lobt die gute Zusammenarbeit mit dem NKL und weist drauf hin, dass jede NKL-Turnerin zugleich auch Mitglied eines örtlichen Turnvereins sein müsse. «So gehen sie als Menschen dem Turnen nicht verloren, und der Verein profitiert an Wettkämpfen erst noch von ihrem Können.»
Stingelins Abgang
Den Sprung in ein nationales Nachwuchskader haben beim NKL aktuell zwei Athletinnen geschafft, Ella Bitterlin aus Gelterkinden im Nachwuchs A sowie Angelina Infante aus Thürnen im Nachwuchs B. Gleichwohl kommt das Oberbaselbiet in den «Magglingen-Protokollen» nicht ungeschoren davon. Der frühere Spitzenturner Felix Stingelin aus Diegten war zwölf Jahre lang beim STV Chef Spitzensport. An Bord geholt hat ihn 2008 der Ziefner Hanspeter Tschopp, der damals den zweitgrössten Sportverband des Landes präsidierte.
Stingelins Aufgabe war es, die Basis für möglichst grosse Erfolge zu legen. Denn von den internationalen Titeln hängt auch die Höhe der Subventionen ab, die Swiss Olympic überweist. Tatsächlich erreichte das Kunstturnen in dieser Zeit eine nie dagewesene Blüte mit mehreren EM- und WM-Medaillen und als Krönung die Bronzemedaille von Giulia Steingruber an den Olympischen Spielen 2016 in Rio. Doch diese Medaillen haben nun wörtlich ihre Kehrseiten, die nur wenige zu sehen beziehungsweise zu spüren bekommen.
Als im Sommer die Nationaltrainerin in der Rhythmischen Gymnastik wegen erster massiver Vorwürfe entlassen wurde, stellte der STV auch seinen erfolgreichen Oberbaselbieter Sportchef frei. Und nach den neusten Enthüllungen trennte sich der Verband vergangene Woche definitiv von ihm – natürlich «im gegenseitigen Einvernehmen».
In den «Magglingen-Protokollen» werfen ihm die acht Athletinnen vor, von den Missständen gewusst, aber nicht reagiert zu haben. Diese Woche hat beim STV sogar ein Krisengespräch stattgefunden, an dem auch Bundesrätin Viola Amherd am Tisch sass. «Wir sind erschüttert von den Aussagen der Athletinnen. Ein solches Verhalten der Trainerinnen und Trainer ist inakzeptabel», lässt sich die Sportministerin zitieren.
In vielen Gesprächen wird angedeutet, dass diese «Magglingen-Protokolle» zumindest hierzulande der Rhythmischen Gymnastik als Spitzensport den Todesstoss versetzen könnten. Martin Leber bringt die ganze Situation auf den Punkt: «Viele Mädchen eifern Giulia Steingruber nach. Wollen wir das verhindern?», fragt er und liefert die Antwort nach: «Wir müssen im Spitzensport eine neue, verantwortbare Balance finden.»
Der Auslöser: Die «Magglingen-Protokolle»
jg. «Nach dem Gespräch war mir klar: Es hätte sich nur etwas geändert, wenn ich mich wirklich umgebracht hätte. Sie haben nur Angst vor der Schlagzeile: ‹Kunstturnerin warf sich vor den Zug›.» Vielleicht ist dieses Zitat der Kunstturnerin Lynn Genhart das erschütterndste in den ganzen «Magglingen-Protokollen». Das ist schwer zu beurteilen. Denn die Enthüllungsreportage mit diesem Titel, die am letzten Tag des Oktobers im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» erschien und netto 20 Seiten umfasste, ist gespickt mit Zitaten, die einem beim Lesen unter die Haut gehen. Acht junge Frauen, von denen drei einst dem nationalen Kader im Kunstturnen und fünf der Rhythmischen Gymnastik angehörten, berichten, was sie im abgeschotteten Trainingszentrum in Magglingen alles durchstehen mussten: Mobbing sowie systematische Unterdrückung und Kontrolle sind noch die harmloseren Vorwürfe, welche die früheren Spitzensportlerinnen nachträglich an ihre Trainerinnen und Trainer richten.
Ariella Käslin, ihres Zeichens vor elf Jahren immerhin die erste Schweizer Europameisterin im Kunstturnen, lässt sich zum Beispiel mit dem Satz zitieren, dass neun von zehn Kunstturnerinnen, die sie kenne, unter Essstörungen leiden würden. Andere schildern, wie sie sich trotz 40 Stunden Training pro Woche konstant minimal ernährt hätten, wie ihnen selbst das Trinken verboten wurde und sie deshalb im Training ohnmächtig «zusammenklappten». Selbst körperliche Übergriffe scheinen in Magglingen zum System zu gehören: «Der Trainer (Anm. d. Red.: An dieser Stelle seien ihre Namen nicht genannt) schlug mich. Als ich weinte, sagte er, ich solle gefälligst weitertrainieren. Manchmal kniffen sie uns so hart, dass ich blaue Flecken bekam», schildert eine andere Athletin. Lynn Genhart ist auch nicht die Einzige, die Suizid-Gedanken eingesteht. So wurde eine andere Athletin, wie sie schildert, von ihrem Vater notfallmässig in Magglingen abgeholt, und die eingeschaltete Notfall-Ärztin diagnostizierte eine akute Depression.
Mit einem Leistungsvertrag wurde den ehrgeizigen Athletinnen mit dem Ausschluss gedroht, falls sie sich nachteilig über «Magglingen» äussern. Medienkontakte waren nur über den Verband erlaubt. «Schau», soll die Trainerin zu einer zusammengebrochenen Athletin gesagt und auf einen leeren Sack gezeigt haben, «schau, das bist du.» Dann habe sie den Sack vor den Augen der Sportlerin zerrissen.
In einer Stellungnahme zu den Vorwürfen sagt Erwin Grossenbacher, der STV-Zentralpräsident, dass der Vorstand die Schilderungen sehr ernst nehme, und spricht auch den Athletinnen, die sich zu äussern wagten, seinen Respekt aus. Diese Woche wird der Verband eine Bestandesaufnahme vornehmen und dazu den Dialog mit ehemaligen und aktiven Sportlerinnen suchen. «Es ist uns bewusst», schreibt Grossenbacher an alle Turnvereine, «wir müssen über die Bücher. Jetzt.»