Der Häuptling im «Indianerreservat»
23.06.2020 Baselbiet, ReigoldswilElmar Gächter
Nein, mit seiner Meinung hat er nie hinter dem Berg gehalten, auch nicht als Präsident der hintersten Gemeinde im «Fünflibertal». So pointiert, wie er sich stets zu verschiedenen Themen stellt, so klar äussert er sich auch im Gespräch mit der ...
Elmar Gächter
Nein, mit seiner Meinung hat er nie hinter dem Berg gehalten, auch nicht als Präsident der hintersten Gemeinde im «Fünflibertal». So pointiert, wie er sich stets zu verschiedenen Themen stellt, so klar äussert er sich auch im Gespräch mit der «Volksstimme».
Fast schon legendär ist das Wort «Indianerreservat», das er gerne im Zusammenhang mit der Abhängigkeit der Gemeinde von den Gegebenheiten im Baselbiet gebraucht. Politische Parteien haben nichts in einer Gemeindebehörde zu suchen und Fusionen von Kommunen sind für ihn nur eine Frage der Zeit. Die Rede ist von Urs Casagrande, der sein präsidiales Amt nach acht Jahren in andere Hände übergibt, ohne grosse Emotionen. «Ich bin jetzt 69 Jahre alt und es ist Zeit aufzuhören.»
Sorgen um die Finanzen
Als Kommunikations- und Marketingprofi, der mehr als 20 Jahre zwar für das gleiche Unternehmen, jedoch an verschiedenen Standorten tätig war, kam für ihn ein Gemeinderatsmandat vorerst nicht infrage. Der Gang in die Selbstständigkeit als Inhaber einer Bodega in Reigoldswil, wo er Wein und Olivenöl verkaufte, erlaubte ihm jedoch ab Oktober 2004 die Flexibilität, um sich als Gemeinderat vorab Fragen der Wasserversorgung zu widmen. Die Tatsache, dass es gelungen ist, das marode Leitungssystem zu sanieren und eine Millionenschuld zu tilgen, bezeichnet er noch heute als eines der Highlights seiner Tätigkeit als Gemeinderat. «Vor allem bin ich stolz auf unsere Bevölkerung, welche die notwendigen Mittel stets bewilligt hat», blickt Urs Casagrande zurück.
Die Finanzen sollten ihn auch in seiner Zeit als Gemeindepräsident stark beschäftigen. Noch bestens in Erinnerung ist ihm jene Gemeindeversammlung vor rund vier Jahren, als der Souverän das beantragte Budget zurückwies, und es im darauf folgenden Februar mit einer bescheidenen Verbesserung dennoch genehmigte. «Es wurde auch der Bevölkerung bewusst, wie wenig finanzieller Spielraum uns als Gemeinde überhaupt noch bleibt», so Casagrande. Mit einem Schmunzeln fügt er hinzu, dass das entsprechende Rechnungsjahr mit einem Millionenüberschuss endete.
Überhaupt habe Reigoldswil in den vergangenen Jahren gute Abschlüsse ausweisen können. «Klar, haben wir gespart, aber es war auch viel Glück dabei, sei es mit unerwarteten Steuereinnahmen oder wegen des grösseren Finanzausgleichs.»
Urs Casagrande ist ein klarer Verfechter des Subsidiaritätsprinzips, nämlich die Aufgaben und Kompetenzen an der unterst möglichen Stelle anzusiedeln. Heute werde von oben einfach befohlen. Als Beispiel nennt er die Pflegesanierung, die bereits lange nach Abschluss des Budgets erhöht worden sei und die Gemeinde gegen 50 000 Franken koste. Oder die massive Erhöhung der Pensen von Schulleitungen, die er bekämpft. Er verweist auf die Schulkosten, die allein für Reigoldswil mehr als 2 Millionen Franken betragen. «Ich bin wie viele andere Gemeindevertreter klar der Meinung, dass der Kanton zumindest Teile des Primarschulwesens übernimmt. Denn nur noch über das Schulmaterial zu bestimmen oder zu sagen, ob die Schüler ins Lager dürfen oder nicht, kann es auf die Dauer nicht sein.»
Gemeinsam Ziele erreichen
Überhaupt die Kompetenzen. Zu seinem schon vor längerer Zeit geäusserten Spruch zum Indianerreservat stehe er nach wie vor. «Wir sind so abhängig vom Finanzausgleich und zu sagen haben wir nicht viel. Ich fühle mich vielfach wirklich wie ein Indianderhäuptling, der ab und zu sein Kriegsbeil ausgraben muss, um Liestal klarzumachen, dass es uns auch noch gibt», hält Urs Casagrande fest.
Hoffnungen macht er sich in der Regionenbildung unter dem Titel «Liestal-Frenkentäler plus», für die Reigoldswil einer der Hauptgründer und Verfechter sei, um mit anderen Gemeinden zusammen gemeinsame Ziele zu erreichen. Einerseits sei er optimistisch, andererseits bleibt aber auch eine gewisse Skepsis, da viele Gemeinden nach wie vor ihr Gärtchendenken pflegten. «Ich bin ohnehin überzeugt, dass es früher oder später zu Gemeindefusionen kommt», äussert sich Casagrande unmissverständlich.
Sehr gerne blickt er auf die Zusammenarbeit im Gemeinderat zurück. «Wir hatten zwischendurch harte Diskussionen, die aber stets fair geführt wurden.» Geschätzt habe er auch stets, nach der Gemeinderatssitzung im «Ryfenstein» mit dem Kollegium ein Bier zu trinken. Leider sei dies schon seit längerer Zeit nicht mehr möglich, da kein einziges Restaurant am Montagabend geöffnet sei.
Absolut wichtig findet der Präsident es im Übrigen, dass im Gemeinderat keine Parteipolitik betrieben wird. «Auf Gemeindeebene hat diese nichts zu suchen. Ich will mir doch nicht von Parteioberen vorschreiben lassen, was ich in einer Gemeinde sagen oder vertreten muss», sagt er.
In wenigen Tagen ist Urs Casagrande nicht mehr das Oberhaupt der 1600-Seelen-Gemeinde. «Ich habe sehr viel gelernt in diesen acht Jahren und bin dankbar, dass ich dieses Amt ausüben durfte», bilanziert er. Die Reigoldswiler Bevölkerung lobt er für deren gute politische Kultur. Dies und jenes werde er vermissen und es werde ihm am Anfang ohne Gemeinderatssitzung und 90 Prozent weniger E-Mails spanisch vorkommen. «Aber für mich ist die Situation gut so. Und was meine Präsidialzeit bewirkt hat, das wird die Geschichte weisen.»
«Man muss eine gewisse Sturheit an den Tag legen»
Herr Casagrande, woran erinnern Sie sich im Rückblick besonders gerne?
Urs Casagrande: Neben der Sanierung der Wasserversorgung freut mich die Schulhaussanierung und der ebenso erfolgreiche Anbau. Zudem konnten wir vergangenes Jahr 2 Millionen Franken Schulden zurückzahlen. Und nicht zuletzt macht es mich stolz, zu den Gründern und treibenden Kräften der regionalen Zusammenarbeit zu zählen.
Es gab sicherlich auch Enttäuschungen.
Heute meint man, alles müsse professionalisiert werden. Dies sieht man am Beispiel der Kesb. Wir sind zwar keine Juristen, aber wir hatten die Sache im Griff und alles war viel günstiger als jetzt mit dem Riesenapparat. Ich denke auch an die Sozialhilfe, wo heute nur noch bestehen kann, wer eine Fachhochschule absolviert hat. Leider geht ab und zu der gesunde Menschenverstand verloren.
Welche Restanzen hinterlassen Sie Ihrem Nachfolger Fritz Suter?
Jene, die ich bereits übernommen habe, nämlich die Sanierung der Deponie Eichenkeller. Leider ist es noch nicht gelungen, eine Einigung zu erzielen. Es stört mich sehr, dass dieses Thema noch nicht ad acta gelegt werden kann.
Und welchen Rat geben Sie ihm?
Er soll seine Unabhängigkeit bewahren. Denn bei neuen Kräften gibt es immer wieder Influencers, die versuchen, ihren Einfluss geltend zu machen. Man muss als Gemeindepräsident eine gewisse Sturheit an den Tag und gewisse Dinge beiseitelegen können sowie klar kommunizieren, dass gewisse Geschäfte Gemeindesache sind. Dies war für mich stets wichtig, so wird man weniger angreifbar. Lieber unnahbar als angreifbar. Und dass er weiterhin zu den Finanzen Sorge trägt.
URS CASAGRANDE
emg. Der Ende Juni abtretende Gemeindepräsident steht im 69. Altersjahr, ist Vater von zwei längst erwachsenen Kindern und Grossvater von drei Enkeln. Urs Casagrande hat Betriebsökonomie studiert und war während 26 Jahren im Kommunikations- und Marketingbereich bei Coop tätig. Danach baute er sich an seinem Wohnort Reigoldswil eine Bodega auf, wo er Wein und Olivenöl aus Spanien verkaufte. Er ist Indianerfan und will sich in der Pensionierungszeit wieder vermehrt der Geschichte widmen sowie auch hin und wieder auf Reisen gehen.