Die spannenden Leben eines Dadaisten
19.12.2019 Bezirk Waldenburg, WaldenburgEine aussergewöhnliche Geschichte liegt hinter dem Waldenburger Künstler Renato Wellenzohn, manch künstlerisches Projekt aber noch vor ihm – auch wenn er seinen Grabstein bereits erstellt hat.
Elmar Gächter
Sedrun. Tief im Berginnern ein Jahrhundertwerk ...
Eine aussergewöhnliche Geschichte liegt hinter dem Waldenburger Künstler Renato Wellenzohn, manch künstlerisches Projekt aber noch vor ihm – auch wenn er seinen Grabstein bereits erstellt hat.
Elmar Gächter
Sedrun. Tief im Berginnern ein Jahrhundertwerk eidgenössischer Tunnelbaukunst. Dabei ein Mann, der bei seinem ersten Arbeitstag nicht einmal weiss, was ein Sprengvortrieb ist. Sieben Jahre später ist er ein längst gefragter Mineur, einer der wenigen Schweizer, die es bei Saunahitze und allgegenwärtigem Staub und Lärm an diesen unmenschlichen Ort verschlagen hat. Tagtäglich der Druck auf den Ohren, wenn ihn und seine Kumpels der riesige Lift in etwas mehr als einer Minute in 800 Meter Tiefe befördert. Bis zu jenem schicksalhaften Tag. Wegen der permanenten Feuchtigkeit bleibt der Sand auf dem Förderband und im Silo kleben. Die Anlage aber muss weiterlaufen, um jeden Preis. Dann der verhängnisvolle Fehltritt. Der Mineur stürzt aus fünf Metern Höhe direkt auf den Kopf. Dunkelheit, erst viel später das Erwachen in der Klinik. Invalid. Der Start in ein neues Leben, einmal mehr.
Die Mutter zieht es von Davos nach Basel. 1951 bringt sie einen unehelichen Sohn zur Welt: Renato Wellenzohn. Zu jener Zeit eine familiäre Katastrophe. Und so ergeht es Wellenzohn wie vielen anderen Kindern: Er erhält Pflegeeltern. Dass es ihn gibt, wird seine Grossmutter erst drei Jahre später erfahren. Statt nach Argentinien mit seiner Pflegfamilie kommt er nach Davos zu seinen Grosseltern, deren jüngstes Kind, eines seiner nun sieben Onkel und Tanten, gerade mal zwei Jahre älter ist als er. «Ich habe mich durch die Schulzeit geschlichen, bin öfter statt um acht Uhr erst eine Stunde später im Klassenzimmer erschienen, weil es unterwegs so viel Interessantes zu beobachten gab», blickt Renato Wellenzohn zurück. Seine Lehrer haben ihm dies nicht übel genommen. «Ich war ein lieber und ruhiger Junge, halt in meiner eigenen Welt.»
Bauer und Auswanderer
Er lernt Schreiner, nicht unbedingt jenen Beruf, den er sich vorstellt, aber einer, der ihm später noch sehr zustattenkommt. Nach Umwegen schliesst sich die Ausbildung als Schaufensterdekorateur an – «mein absoluter Wunschberuf» – und berufsbegleitend die Kunstgewerbeschule in Luzern. Schnell macht sich Wellenzohn selbstständig. Ein Mann mit kreativen Ideen und grossem handwerklichen Geschick ist gefragt. Für einen Zürcher, von Beruf Sohn, baut er ein vollverglastes Holzhaus, eines der ersten mit Sonnenkollektoren, bringt selber das nötige Know-how ein. «Ich habe es gern, wenn es technische Probleme gibt», sagt Wellenzohn.
Etwas müde vom Stadtleben sattelt er beruflich um, pachtet einen Bauernbetrieb im Entlebuch, schafft sich Schafe und Kühe an. «Als ich die Milch in die Käserei brachte, staunten sie dort nicht schlecht. Meine fünf Kühe gaben mehr Milch als jenes Dutzend, das mein Pächter vor mir im Stall hatte.» Er hätte eben geübt und alles so gemacht, wie es im bäuerlichen Betriebshandbuch stehe, meint Wellenzohn und schmunzelt. Dann nähert sich 1986 die Giftwolke aus Tschernobyl und für ihn und seine Frau mit ihren beiden Kleinkindern ist klar, die Zelte in der Schweiz kurzfristig abzubrechen und vorübergehend nach Kanada auszuwandern.
Nach der Rückkehr in die Schweiz folgt die grosse Zeit des Häuserbaus. Mehr als zehn günstige Kleinbauten bei Heiligkreuz, alle mit ökologischen Wärmepumpen ausgerüstet, tragen vom Entwurf bis zur Schlüsselübergabe seine Handschrift. «Die Leute haben mir fast die Bude eingerannt», so Wellenzohn. Doch der Höhenflug sollte abrupt enden. «Mein Holzlieferant in Vals ging pleite und ich hatte die Idee, diesen Betrieb zu ersteigern», mit fatalem Ausgang. Denn gleichzeitig startet eine Grosssägerei in Ems ihren Betrieb und als Folge davon blieben die Aufträge aus. Wellenzohn selber muss Insolvenz anmelden und verliert sein ganzes Kapital.
Mineur und Künstler
Und so bleibt nur die Suche nach einem neuen Job, der ihn 2003 nach Sedrun führt. Seine Erinnerungen daran sind nach wie vor sehr präsent. Mehr als zwei Jahre nach seinem schweren Unfall kehrt er, gegen den Rat von Ärzten und Familie, auf die Baustelle des Gotthard-Basistunnels zurück. Er fährt noch drei Jahre im Putzzug und Saugzug mit und will unter allen Umständen beim Durchstich dabei sein. «Ich bin stolz darauf, auf der Gedenktafel als einer der Mineure dieses Jahrhundertbauwerks aufgeführt zu sein», sagt Wellenzohn.
Es folgt die Zeit der Künste. Er ist Dadaist, mit Leib und Seele. Ein Rebell, rein aus künstlerischer Sicht betrachtet. Ihm gefällt der Gegenpol zum Konventionellen. «Ein Dadaist macht die Kunst erst dann, wenn er es sich leisten kann», sagt Wellenzohn. Für ihn heisst dies, mit seiner kleinen Rente das zu tun, was ihn glücklich macht. «Konventionelle Kunst geht bis fast in die Prostitution, dies kann ich nicht mit meiner Kreativität vereinbaren.» Deshalb kommt für ihn ein Verkauf seiner Werke nicht infrage. Gerne aber stellt er sie kostenlos Dritten zur Verfügung. Im Gegensatz zurWeltanschauung anderer Dadaisten würde er mit seinen Werken sein Publikum nie verhöhnen. «Ich bin ein absoluter Menschenfreund.» Er frönt seiner bildenden Kunst nicht nur in seinem Atelier in Waldenburg, sondern auch im fernen Apulien, wo es ihn während der Wintermonate hinzieht.
Vor vier Jahren hat Wellenzohn in Waldenburg ein altes Haus mitten in den Stadtmauern erworben, mit einer Breite von gerade mal drei Metern, ganz zufällig an seinem Zweitwohnsitz in Italien im Internet entdeckt. «Die Bevölkerung hat mich extrem lieb aufgenommen, sie ist inzwischen meine Familie geworden», schwärmt Wellenzohn von seiner Wohngemeinde. Und – typisch Dadaist – sein Grabstein ist bereits erstellt. «Auch mein Abschied ist ein Kunstprojekt, einfach das letzte», so der Künstler. Doch längst nicht jeden Tag denkt er an seinen Tod. Denn es liegen noch viele Projekte vor ihm. Hier in Waldenburg plant er zusammen mit Freunden eine grosse Ausstellung für regionale, nationale und internationale Künstlerinnen und Künstler. Sie soll am 6. Juni kommenden Jahres ihre Vernissage feiern.
Dadaismus
emg. Der Dadaismus entstand 1916 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. In Zürich versammelten sich einige Künstler im Cabaret Voltaire, einem Lokal, in dem Abendveranstaltungen mit Tanz, Lesungen und Ausstellungen abgehalten wurden. In der Folge wurden in Deutschland, Frankreich und den USA zahlreiche Dada-Galerien eröffnet, Dada-Zeitschriften gegründet. Der Dadaismus wandte sich gegen die verlogenen Ideale und Werte der Gesellschaft, die den Krieg herbeigeführt und ermöglicht hatten. Er richtete sich zugleich gegen alle herkömmlichen Kunstformen und den guten Geschmack.