Raus aus der Komfortzone
25.11.2021 Anwil, Bezirk Sissach, BaselbietRaja Breig
Zum ersten Mal mit dem Gedanken gespielt hat Carmen Lander während des Sommerurlaubs 2019 in Israel. Die Tatsache, dass israelische Frauen der Wehrpflicht ebenso unterliegen wie Männer, inspirierte die 21-Jährige so sehr, dass sie diesen Sommer die ...
Raja Breig
Zum ersten Mal mit dem Gedanken gespielt hat Carmen Lander während des Sommerurlaubs 2019 in Israel. Die Tatsache, dass israelische Frauen der Wehrpflicht ebenso unterliegen wie Männer, inspirierte die 21-Jährige so sehr, dass sie diesen Sommer die Rekrutenschule (RS) als Lenkwaffensoldatin begann. Mittlerweile befindet sie sich sogar in der Unteroffiziersschule.
Der Beweggrund für Landers Entscheid ist simpel: Gleichberechtigung. «Es ist nicht in Ordnung, dass Männer Dienst leisten müssen und wir Frauen nicht», findet die Anwilerin. Sie habe sich für die Armee und gegen den Zivildienst oder -schutz entschieden, weil sie die Herausforderung suchte. «Nach dem Gymnasium wollte ich etwas ganz anderes machen, aus meiner Komfortzone herauskommen.»
Allererste Lenkwaffensoldatin
Carmen Lander ist in der Funktion der Lenkwaffensoldaten (auch «Stinger») die allererste Frau in der Geschichte der Schweizer Armee. Dennoch möchte sie von ihren Vorgesetzten um keinen Preis anders behandelt werden als ihre Kameraden. «Ich habe alles mitgemacht», so Lander, «ich bin 35 Kilometer marschiert und durch den Schlamm gerobbt wie alle anderen auch, und ich bin nicht etwa das schwächste Glied der Gruppe.»
Nachteile oder Privilegien wegen ihres Geschlechts hat Lander bis auf ein eigenes Zimmer noch kaum erfahren. «Die Vorgesetzten waren am Anfang ein wenig überfordert», erzählt Lander. Sie sei allerdings stets respektiert und auf keinen Fall geschont worden. Ihr sei aufgrund der Erzählungen von anderen Frauen jedoch bewusst, dass dies wohl nicht in allen Kasernen der Fall sei.
Zwei Persönlichkeiten
Die RS hat Carmen Lander in Grandvillard (FR) absolviert, die vierwöchige Unteroffiziersschule findet in Emmen (LU) statt. Ihr Tagesablauf ist strikt, der Monat streng getaktet. Von morgens um sechs bis abends um elf durchlaufen die 23 Aspiranten ihrer Klasse mehrere Theorieblöcke sowie Sporteinheiten. Carmen Lander ist die einzige Frau, in Grandvillard war sie die einzige in der gesamten Kaserne.
«Die Leute haben gewisse Vorurteile gegenüber Frauen in der Armee», sagt Lander. Ihr wurde beispielsweise vorgeworfen, den Militärdienst nur wegen der Männer zu machen, die sie dort kennenlernen würde. Ausserdem sage man von Frauen im Militär, sie seien «sowieso halbe Männer». Dieses Klischee trifft auf Lander nicht zu: Sie ist froh, dass sie ihr Äusseres bis auf das korrekte Tenü nicht ändern musste, Schmuck wie beispielsweise Ohrringe trotzdem tragen darf. Dennoch fühle sie sich manchmal, als habe sie zwei Persönlichkeiten: «Die Militär-Carmen ist eine ganz andere Person als die private Carmen.»
Rückenwind
Das Bedürfnis, den freiwilligen Militärdienst zu leisten, hat die 21-jährige Mode- und Politikbegeisterte ihren Eltern lange verschwiegen. «Erst als der Brief mit dem Marschbefehl kam, erfuhren sie davon», sagt sie. Sie seien schockiert gewesen, mittlerweile würden sie ihre Tochter jedoch unterstützen. In Landers Freundeskreis fielen die Reaktionen sehr unterschiedlich aus. «Meine männlichen Freunde wollten mir das Militär allesamt ausreden, während ich von meinen Freundinnen Rückenwind bekam», sagt sie.
Was Carmen Lander an der Armee am besten gefällt, ist, dass sie ihre körperlichen und psychischen Grenzen ausloten kann. Die Feldübungen, bei denen tagelang Stellung gehalten und ein Bekämpfungsablauf geübt wird, sagen ihr ebenfalls zu. Ausserdem habe sie schon einige Freundschaften geschlossen, schätze die Kameradschaft. Man baue sich gegenseitig auf, wenn jemand nicht mehr kann, erzählt sie.
Nichtsdestotrotz war Lander während ihrer militärischen Laufbahn schon das eine oder andere Mal der Verzweiflung nahe: «Mein Tiefpunkt war während einer Feldübung. Ich musste die ganze Nacht wach bleiben und es hat geregnet und gestürmt. Ich habe einfach darauf gewartet, dass es endlich vorbei war.»
Militärkarriere oder Jurastudium
Carmen Landers Meinung zur Armee hat sich während der vergangenen Monate drastisch geändert. «Früher habe ich mich null dafür interessiert, war eher dagegen», schildert sie. «Ich dachte, dass man da den lieben langen Tag nur schikaniert wird. Dem ist aber nicht so.» Dennoch gibt sie zu, dass ihr unnötige Kollektivstrafen gegen den Strich gehen, genau wie die Tatsache, dass die Vorgesetzten einen zum Weitermachen zwingen dürfen. Sie selbst sei allerdings freiwillig hier.
Mit der Unteroffiziersschule soll Carmen Landers militärische Laufbahn noch lange nicht enden: Kommenden Januar wird sie in der nächsten 18-wöchigen RS als Gruppenführerin fungieren, im Anschluss vielleicht sogar die Ausbildung zum Leutnant absolvieren. Im Berufsmilitär sieht sich Lander jedoch nicht: «Irgendwann muss es auch ein Ende haben. Ich möchte eigentlich noch Jura studieren.»
Frauen im Militär
rab. Laut einer Statistik des «Statista Research Department» sind in der Schweizer Armee momentan um die 1500 Frauen tätig, was nur rund 0,9 Prozent ausmacht. Die Tendenz ist jedoch steigend: Im Jahr 2015 waren es lediglich 1000 Frauen. Im internationalen Vergleich ist die Schweizer Quote eher gering: Die deutsche Bundeswehr weist beispielsweise einen Frauenanteil von 13 Prozent auf.