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03.08.2021 SportParallelwelt
«Gute Nacht», sage ich zu Arbeitskollege Christoph. Wir lachen. Es ist zehn Uhr morgens am ersten Wettkampftag der Olympischen Sommerspiele, die erste Nachtschicht liegt hinter uns. Feierabend mitten am Vormittag? Irgendwie cool. Vor allem aber ...
Parallelwelt
«Gute Nacht», sage ich zu Arbeitskollege Christoph. Wir lachen. Es ist zehn Uhr morgens am ersten Wettkampftag der Olympischen Sommerspiele, die erste Nachtschicht liegt hinter uns. Feierabend mitten am Vormittag? Irgendwie cool. Vor allem aber surreal. Willkommen in der Parallelwelt!
Während Christoph sofort schlafen geht, am späten Nachmittag dann in den «neuen» Tag startet und so den freien Abend geniessen kann, ehe nach Mitternacht unsere nächste Schicht beginnt, bleibe ich den ganzen Tag über wach. Erst am späten Nachmittag lege ich mich wieder ins Bett. Einschlafen, wenn es draussen hell ist? Eigenartig, aber machbar. Es lohnt sich, den Biorhythmus komplett umzustellen, finde ich. Für Sportler sind Olympische Spiele das Grösste, und irgendwie sind sie es auch für mich als Sportjournalistin. Zwar missfällt mir der Gigantismus – die Spiele in Tokio sollen mindestens 13 Milliarden Franken kosten. Trotzdem ziehen mich die fünf Ringe in den Bann, seit ich als Neunjährige vor dem TV mitfieberte, wie Vreni Schneider in Lillehammer Gold im Slalom holte. Olympische Spiele zeigen die sportliche Vielfalt. 33 Sportarten sind es in Tokio, 11 000 Athletinnen und Athleten aus über 200 Ländern kämpfen in 339 Entscheidungen um Medaillen. Was mich besonders freut: Etwa 49 Prozent der Teilnehmenden sind Frauen, so viele wie noch nie.
Sass ich also 1994 während Olympia vor dem TV, sitze ich nun am Schnittplatz und berichte über spannende, zuweilen gar historische Entscheidungen um Schweizer Sportlerinnen und Sportler.
Für diese zwei Wochen bin ich gerne Nachteule: Tokio liegt sieben Stunden vor Zürich, deshalb dauert die nächtliche «Liveschicht» von zwei bis zehn Uhr. Wir sind zwei Redaktoren und eine Redaktorin, die das Geschehen auf diversen Kanälen mitverfolgen und innert Kürze für TV und Online zusammenfassen, die Moderatoren vor Ort mit Infos beliefern und uns bereits in der ersten Nacht über die erste Medaille der Sportschützin Nina Christen mitfreuen. Aufs Schiessen folgen Beachvolleyball und Badminton. Von Sabrina Jaquets erstem Spiel soll ich eine sogenannte «TAZ» erstellen, eine Teilaufzeichnung für später am Tag. Einberechnet sind 40 Minuten, die Schweizerin verliert das Badmintonmatch jedoch in nur 25 Minuten. Flexibel sein ist wichtig beim Fernsehmachen.
Das gilt auch für die Ernährung. Nicht nur der Schlafrhythmus ist individuell, auch das Essverhalten. Während ich mich eigentlich nur noch von Birchermüesli ernähre, da für mich gefühlt immer Morgen ist, mampft Kollege Christoph um vier Uhr morgens sein «Abendessen»: Kartoffelsalat mit Fleischkäse … Na dann, gute Nacht!
Seraina Degen
Seraina Degen (34) ist in Niederdorf aufgewachsen. Als Torhüterin spielte sie lange leidenschaftlich Fussball, heute bleibt sie beruflich am Ball – als Redaktorin bei SRF Sport.