MEINUNG | FUSSBALL-EM BIETET GROSSEN SPORT – UND ÄRGER
16.07.2021 SportHinschauen und nachdenken? Richtig, aber richtig.
Zugegeben: Einen Monat lang hat es mich in den Fingern gejuckt, zur Feder zu greifen. Den Drang konnte ich zähmen, bis am vergangenen Dienstag das Schweizer Fernsehen einen Rückblick auf die vergangene ...
Hinschauen und nachdenken? Richtig, aber richtig.
Zugegeben: Einen Monat lang hat es mich in den Fingern gejuckt, zur Feder zu greifen. Den Drang konnte ich zähmen, bis am vergangenen Dienstag das Schweizer Fernsehen einen Rückblick auf die vergangene Fussball-EM ausstrahlte. Keine Ankündigung, die Zusammenfassung weder mit Vor- noch mit Abspann, der Auskunft über die Produzenten liefern würde. Dafür mit prächtigsten Bildern aus all den Städten (mit gehäuften Sonnenuntergängen) und den Stadien: kein Foul, keine Karte, kein Verletzter, keine voyeuristischen Bilder des zusammensackenden Christian Eriksen.
Den Grund für die Geheimniskrämerei des Schweizer Fernsehens orte ich darin, dass es den 60-minütigen Werbespot von der Uefa gratis angeliefert bekam und ihn deshalb bar jeglicher journalistischer Distanz dankend in die Stuben flimmern liess.
Zweifellos erlebten wir hochklassige und vor allem spannende Matches. Von den total 51 Partien endeten gerade mal 9 klar, das heisst mit zwei oder mehr Toren Unterschied. 8 der 15 K.-o.-Spiele gingen in die Verlängerung, und davon wurde die Hälfte im Penaltyschiessen entschieden – je zwei Mal mussten dabei Europameister Italien und die Schweiz antreten. So ist es müssig zu diskutieren, ob der Pokal in das richtige Land geht.
Rassismus und ökologischer Irrsinn
Aus zwei Gründen freut es mich, dass England auch 55 Jahre nach dem WM-Titel (das Wembley-Tor ist meine erste Fussball-Erinnerung) leer ausging. Erst nervte mich vor dem Final die Penetranz, mit der England als Fussball-Mutterland sein «Recht» auf den Ti tel anmeldete. Danach disqualifizierte sich Grossbritannien mit rassistischen Äusserungen über ihre eigenen Helden. Kennen wir das nicht auch abgemildert aus dem Königshaus?
Noch nie erlebte ich ein Fussball-Championat, das meine politische Toleranz gegenüber dem austragenden Verband so sehr strapazierte. Das beginnt mit der Idee, die Partien mit dem Streusieb über den ganzen Kontinent zu verteilen. Die Schweiz spielte der Reihe nach in Baku, Rom, Baku, Bukarest und St. Petersburg und legte dabei 15 600 Flugkilometer zurück. Das ist Irrsinn. England durfte zwei Partien mehr austragen, trat aber abgesehen von einem Abstecher in Rom stets im eigenen Wembley-Stadion an.
Das ist in zweiter Linie eine grobe Wettbewerbsverzerrung, die jedem Fairness-Gedanken widerspricht. Doch in erster Linie lacht die Uefa ihrem Kontinent, der im Begriff ist, gegen den Klimawandel anzukämpfen, einfach ins Gesicht. Weltweit ist Ökologie das Gebot der Stunde. Die selbstherrliche Uefa setzt sich darüber hinweg.
Corona gibts im Fussball nicht
Doch nicht nur hier legt sich der mächtigste Kontinentalverband geradezu provozierend mit der EU an. Er entzieht den Städten Sevilla und Dublin, die ihre Spiele wegen Corona vor leeren Rängen austragen lassen wollen, kurzfristig die Partien und zügelt sie in den willfährigen Osten Europas. In der Hauptstadt von Orbans Ungarn wohnen 70 000 maskenlose Zuschauer dem ersten Spiel bei.
Angetreten wird sogar ausserhalb Europas in Baku, wo es die Polizei dem Schweizer Fernsehen verbietet, im öffentlichen Raum einen harmlosen Stimmungsbericht zu drehen. China, in Brüssel ebenfalls in Ungnade gefallen, besetzt mit seinen Firmen in chinesicher Sprache rund einen Drittel der Werbebanden. Der Schweizer René Fasel, der sich als höchster Eishockey-Funktionär der Welt gerne an die Brustorden von Putin und Lukaschenko schmiegt, ist also in bester Gesellschaft.
Die Uefa liess es auch zu, dass trotz Corona in Osteuropa in vollen Stadien gespielt werden konnte, während im Westen die Fallzahlen wieder nach oben zu klettern begannen und diese Länder in Argumentationsnotstand gerieten.
Als in England die Delta-Variante um sich griff und deshalb die Zuschauerzahlen für die finalen drei Spiele beschränkt wurden, war die Botschaft aus Nyon, wo die Uefa thront, klar: offene Schleusen oder wir zügeln in ein gefügigeres Land. Eine blonde Mähne nickte an der Downing Street 10. Die EM habe in einer Zeit stattgefunden, «in der die Pandemie noch nicht restlos überwunden war» heisst es im besagten Rückblick beschönigend, während praktisch weltweit die Zahlen wieder steigen. Und an diese unerfreuliche Entwicklung steuert diese EM mit ihrem Egotrip und ihrer Botschaft auch einen Teil bei.
Das Glanzstück lieferte die Uefa mit ihrem Entscheid, München zu verbieten, aus Protest gegen ein neues homophobes Gesetz in Ungarn das Stadion der Bayern in den Regenbogenfarben zu beleuchten. Und München kuschte ebenso wie London. Wenigstens hatte Manuel Neuer den Mut, trotz Bussenandrohung das ganze Turnier über eine Captainbinde in den Regenbogenfarben zu tragen. Und ausgerechnet ein EM-Hauptsponsor, ein deutscher Fahrzeugbauer, sprang dem Goalie zur Hilfe: Das kleine Elektroauto, das werbewirksam jeweils den Spielball in den Anspielkreis führte, trug plötzlich diese umstrittenen Farben – ebenso die Bandenwerbung. Und im Final lautete der Schriftzug darauf: «We drive diversity.» Das ist mehr als bloss ein kluger Werbe-Schachzug.
Und in einem Jahr verneigen wir uns vor Katar, dem superreichen Erdöl-Emirat, für das Homosexuelle Verbrecher sind, das sich um Menschenrechte foutiert und das – auch ohne Flugkilometer – einen weiteren ökologischen Irrsinn veranstaltet.
In der Einleitung der EM-Zusammenfassung heisst es melodramatisch: «Im Fussball musst Du hinschauen, nachdenken und Du musst anderen helfen.» Ja. Und richtig.
Jürg Gohl