Ein «Blackout» mit Folgen
06.05.2021 Baselbiet, Justiz, Polizei, GesellschaftAm Diestag sprach das Baselbieter Strafgericht einen ehemaligen Arxhof-Bewohner der versuchten Tötung schuldig. Der 22-Jährige stach mit einem Rüstmesser in den Oberarm eines Mitbewohners ein. Die Institution und der Bewohner überforderten sich offenbar seit Langem ...
Am Diestag sprach das Baselbieter Strafgericht einen ehemaligen Arxhof-Bewohner der versuchten Tötung schuldig. Der 22-Jährige stach mit einem Rüstmesser in den Oberarm eines Mitbewohners ein. Die Institution und der Bewohner überforderten sich offenbar seit Langem gegenseitig.
Sebastian Schanzer
Im Massnahmenzentrum Arxhof in Niederdorf lernen junge Menschen, die straffällig geworden sind, die Fähigkeit zur Selbstverantwortung und zur deliktfreien Lebensführung. Vermittelt wird ihnen dies durch erzieherische und therapeutische Massnahmen, begleitet von einer beruflichen Ausbildung. Eine verbindliche Tagesstruktur soll den Bewohnern Orientierung geben und ihnen Kontinuität vermitteln − als Grundlage zur Alltagsbewältigung, wie es im Konzept der Anstalt heisst. Werktags wird im offenen Vollzug beispielsweise um 6.45 Uhr gefrühstückt, an den Wochenenden um 10 Uhr.
Dem ehemaligen Bewohner Gian, der in Wirklichkeit anders heisst, fiel es manchmal allerdings schwer, früh aufzustehen. Das habe möglicherweise mit seinem Cannabis-Konsum zu tun gehabt, oder mit den Medikamenten, die er eingenommen habe, sagte er am Montag vor den Richtern am Strafgericht aus. Sie hatten darüber zu befinden, ob sich Gian am Ostermontag vor einem Jahr im Arxhof der versuchten Tötung schuldig gemacht hatte.
An diesem 13. April 2020 hatte Gian laut Anklageschrift den Brunch seiner Wohngruppe im Arxhof verschlafen. Als ihn der Sozialpädagoge weckte und ihn auf sein Versäumnis und die Konsequenzen hinwies, geriet Gian in Rage, fluchte, schrie und schlug um sich. Der Sozialpädagoge schloss die Türe, entfernte sich und liess den jungen Mann in seinem Zimmer toben. Anders ein Mitbewohner: Dieser fühlte sich dazu berufen, deeskalierend einzugreifen und für Ruhe auf dem Zimmer zu sorgen. Gemäss einem Zeugenbericht forderte er Gian zwar laut, aber durchaus in anständigem Ton auf, sich zusammenzureissen. Kurz darauf entdeckte er ein Rüstmesser in der Hand des damals 21-jährigen Gian.
Kein unbeschriebenes Blatt
Dieses Messer, so führte Gians Verteidiger ins Feld, hätte niemals in dessen Zimmer gelangen dürfen. «Seine Affinität zu Stichwaffen war den Verantwortlichen in der Institution bekannt, dennoch haben sie es ihm nicht weggenommen», monierte er in seinem Plädoyer. Bereits 2012/13 habe Gian einen Mitschüler mit einer Schere verletzt. Und 2016 wurde der damals noch Minderjährige im Kanton Graubünden wegen versuchter Tötung mit einer Stichwaffe verurteilt − der Grund, warum er seit 2017 im Arxhof lebte. Er habe das Messer zur Pflege seiner Zimmerpflanzen benötigt, sagte Gian am Montag vor den Richtern. «Es lag offen auf meinem Pult, die Pädagogen wussten das.»
Im Wissen um die Gefahr, die vom Messer in seinem Zimmer ausging, wollte es Gian nach der Auseinandersetzung mit dem Sozialpädagogen in die Küche bringen, wie er sagte. Der herbeigeeilte Mitbewohner stiess ihn allerdings mit der Hand zurück. Was dann passierte, weiss Gian offenbar nicht mehr. Er könne sich nicht erinnern, habe in diesem Moment keine Kontrolle mehr über sich gehabt − ein «Blackout», gab er zu Protokoll. Näheres ist der Anklageschrift zu entnehmen: Gian holte mit der Hand aus und stiess die 8 Zentimeter lange Klinge mit Wucht in den rechten Oberarm seines Mitbewohners. Dabei sei es nur dem Zufall zu verdanken, dass der Messerstich nicht eine andere Stelle des Oberkörpers traf und dabei tödliche Verletzungen verursacht hätte. Das Opfer erlitt «nur» eine 3,4 Zentimeter lange und 2,5 Zentimeter tiefe Stichverletzung. Nach einigen Wochen war sie bereits verheilt.
Schwere Kindheit
Dass er die Tat bereut und auch nicht die Absicht hatte, seinen Mitbewohner zu verletzen oder gar zu töten, beteuerte Gian an der Verhandlung ausdrücklich. Nichtsdestotrotz sprachen ihn die fünf Richter am Dienstag der versuchten eventualvorsätzlichen Tötung schuldig. Er sei sich der Gefahr durchaus bewusst gewesen und habe es in Kauf genommen, sein Gegenüber mit dem Messer tödlich zu verletzen. Bei einem Impulsdurchbruch wie diesem entscheide letztlich der Zufall über die Schwere der Verletzung, argumentierte die vorsitzende Richterin. «Etwas tiefer oder ein paar Zentimeter daneben, hätte der Stich lebensbedrohlich werden können.»
In der Strafzumessung folgte das Richter-Gremium dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Diese forderte eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren, die jedoch aufgrund einer verminderten Entscheidungsfähigkeit beim Beschuldigten − der beigezogene Gutachter diagnostizierte bei Gian eine hirnorganische Persönlichkeitsstörung − auf 3½ Jahre halbiert werden müsse. Mildernd auf das Urteil wirkte sich laut der vorsitzenden Richterin auch die Tatsache aus, dass Gian die Tat von Anfang an zugab, sich kooperativ verhielt und Reue zeigte. Zu würdigen sei im Urteil zudem Gians schwere Kindheit. Bereits im Kindergarten sei er zum Einzelgänger geworden, zu Hause war er mit Alkoholproblemen der Eltern konfrontiert und bereits in jungen Jahren wurde er in ein Heim eingewiesen. Sein Vater war nach der Scheidung seiner Eltern aus Gians Leben verschwunden.
Arxhof war der falsche Platz
Die verhängte Freiheitsstrafe von 3½ Jahren muss Gian indes nicht im Gefängnis absitzen. Weil die Tat ohne Zweifel im Zusammenhang mit seiner psychischen Störung stehe, sieht das Gericht die Zuweisung in eine psychiatrische Massnahmenvollzugseinrichtung vor. Bei dieser sogenannten kleinen Verwahrung soll das Risiko von Rückfällen mittels zugeschnittener therapeutischer Behandlung minimiert werden. Sie kann vom Gericht immer wieder um maximal fünf Jahre verlängert werden, solange bei der verurteilten Person keine Fortschritte erkennbar sind.
Gian nahm das Urteil am Dienstag gefasst entgegen. Gewünscht hätte er sich allerdings erneut eine Massnahme für junge Erwachsene, die den Betroffenen mehr Selbstbestimmung erlaubt. Davon riet aber bereits der Gutachter im Gespräch mit den Richtern dringend ab. Offenbar war sowohl Gian mit den Anforderungen des Arxhofs als auch der Arxhof mit der Therapie von Gian überfordert. «Die im Arxhof angestrebte Integration in den ersten Arbeitsmarkt sehe ich bei seinem Profil als unwahrscheinlich an», sagte der Gutachter. Trotz Spezialsetting mit tieferen Anforderungen bezüglich Arbeitsleistung habe Gian keine Fortschritte gemacht.
Zudem sei es immer wieder zu Konflikten mit Mitbewohnern oder Pädagogen gekommen. Irritiert zeigte sich der Gutachter deshalb von Therapieberichten des Arxhofs, wonach sich Gian stetig verbessert habe. Auf die Frage eines Richters, ob die Verantwortlichen der Institution nicht längstens hätten merken müssen, dass der Arxhof der falsche Ort für Gian sei, antwortete er: «Ich glaube, es war schon lange klar, dass er der Arbeitsintegration nicht gewachsen war. Das musste scheitern.» Bei der Zuweisung zum Arxhof habe damals viel Hoffnung mitgespielt.
«Fortschritte sind möglich»
Anlass zur Hoffnung gaben zumindest vordergründig Gians Aussagen zur heutigen Situation. Seit rund zehn Monaten sitzt er im vorzeitigen Strafvollzug im Gefängnis Arlesheim. Dort habe er das Rauchen und Kiffen aufgegeben, gehe arbeiten und spiele Gitarre. Zudem habe er guten Kontakt zu seiner Mutter in Graubünden und mit den meisten Menschen in seinem derzeitigen Umfeld komme er gut aus. Mittlerweile habe er auch keine Schlafprobleme mehr.
Entsprechend ermunterte ihn die Richterin: «Fortschritte sind möglich, auch im Hinblick auf eine dereinstige Unterbringung in einem Wohnheim. Packen Sie die Massnahme und machen Sie das Beste draus.»