«Auf dem Snowboard vergesse ich den Rollstuhl»
26.02.2021 Bezirk Sissach, Sport, SissachBehindertensport | Die 27-jährige Romy Tschopp aus Sissach möchte an den Paralympics in Peking teilnehmen
Durch ihre Behinderung ist Romy Tschopp häufig auf den Rollstuhl angewiesen. Steht die Sissacherin auf dem Snowboard, vergisst sie ihr Schicksal. Eine junge Frau, ...
Behindertensport | Die 27-jährige Romy Tschopp aus Sissach möchte an den Paralympics in Peking teilnehmen
Durch ihre Behinderung ist Romy Tschopp häufig auf den Rollstuhl angewiesen. Steht die Sissacherin auf dem Snowboard, vergisst sie ihr Schicksal. Eine junge Frau, die behindert ist, sich aber nicht behindern lässt.
Jürg Gohl
Spina bifida: Lange war der lateinische Name des Leidens nur Medizinern und Betroffenen ein Begriff. Doch dann kam 1991 Siri, die Tochter der zweifachen Abfahrtsweltmeisterin Maria Walliser mit einem offenen Rücken zur Welt. Oder eben mit Spina bifida. Die Schweizer Öffentlichkeit erfuhr, wie nahe Freud und Leid beieinander liegen können und lernte diese Krankheit kennen, die zu Lähmungen führen kann.
Mit demselben Leiden kam zwei Jahre später in Rothenfluh ein Mädchen namens Romy Gysin zur Welt. Ihr Leiden beeinträchtigte sie bei Weitem nicht so stark wie ihre berühmtere Leidensgenossin. Sie habe eine «normale» Jugend erlebt, wie sie heute sagt, mit Wandern, Klettern, Skifahren und Spielen. Dabei profitierte sie davon, dass sie in einer ausgesprochen sportlichen Familie aufwuchs und immer sehr streng zu sich selber war. Das bisschen Hinken störte sie nicht. Weil ihr zusehends die Kraft fehlte, beim Gehen die Beine zu heben, verglich sie ihren Gang oft mit jenem eines Pinguins – so viel Selbstironie muss sein.
Romy Tschopp, wie sie seit ihrer Heirat im September 2018 heisst, war lange eine normale «Fussgängerin». So nennen Rollstuhlsportler die Gesunden. Mit ihrer Rumpfstabilität konnte sie die Schwächen im hinteren Körperbereich lange wettmachen. Doch die vielen Operationen führten zu immer stärkeren Einbussen. Erschwerend kamen das Wachstum und das Älterwerden hinzu.
«Bitterer, harter Prozess»
Zuerst erhielt sie Orthesen, stützende Schienen, bald musste sie zum Gehen Stöcke zur Hilfe nehmen, und schliesslich wurde der Rollstuhl zum festen Bestandteil ihres Lebens. Ihr Rumpf verlor an Stabilität und die Stürze begannen sich zu häufen. «Das war ein bitterer, harter Prozess», erzählt sie und lässt damit in einem langen Gespräch für einmal auch Hader durchschimmern.
Trotz ihrer Einschränkungen absolvierte sie erfolgreich eine Lehre zur Fachfrau für Bewegungs- und Gesundheitsförderung. Sie begab sich im Alter von 18 Jahren für 10 Wochen nach England in einen Sprachaufenthalt, bei dem es ihr noch um anderes ging: Sie wollte sich und den anderen ihre Selbstständigkeit beweisen – und nicht nur beim Packen muss sie an weit mehr Dinge denken als gesunde Altersgenossen, etwa an Medikamente und Hilfsmittel. Ihr Motto lautete schon damals: «Für jedes Problem gibt es eine Lösung.» Ob sie sich auch heute eine solche Reise auf eigene Faust zutrauen würde, kann sie nicht sagen: «Es ging mir damals schon noch deutlich besser.»
Ihrer Liebe zum Sport, speziell zum Schneesport, konnte ihre Behinderung nie etwas anhaben, mochte sich ihre Stabilität noch so stark verschlechtern. In jungen Jahren stand sie oft, gerne und vor allem gut auf dem Snowboard. Doch auch hier zeichnete sich allmählich ein schmerzhafter Abschied ab, zumal das Gehen, das Tragen und die Fahrt mit dem Schlepplift immer mühsamer und gefährlicher wurden.
Snowboard für Behinderte
Da stiessen Romy Tschopp und ihr Mann auf Anraten ihrer Physiotherapeutin auf das Schweizer Para-Snowboard-Team. «Mein Mann motivierte mich», erzählt sie, und schnell war der Kontakt hergestellt. Seither unterstützen er und «Plusport», die Organisation des schweizerischen Behindertensports, Romy Tschopp, damit sie ihre Sportart trainieren kann. Rennen bestritt sie zwar noch keine, da sie erst frisch klassifiziert, diesen Winter wegen Corona aber alles abgesagt ist. Dafür startet sie diesen Monat am FIS-Snowboard-Rennen in der Lenk als Vorfahrerin. Das Mitmachen bei «Plusport» birgt dabei Vorteile: eine angepasste Ausrüstung, Fachwissen, Trainingslager, Unterstützung und Wettkämpfe.
In der zweiten Februar-Woche steckte Romy Tschopp in einem Trainingslager in Adelboden/Lenk. Da müssen sie und ihre Gefährten auf der Piste regelmässige Pausen einlegen. «Wenn ich unterwegs einen Stuhl benötige, um mich auszuruhen, so steht er bereit. Man ist eingerichtet», lobt sie die Betreuung. Umgekehrt ist auch Silvan Hofer, der Nationaltrainer der Para-Snowboarder, froh über den Zuwachs aus dem Oberbaselbiet. Romy sei mit ihrer positiven, offenen Art ein Gewinn für das Team, sagt er in einer Fernseh-Reportage, während hinter ihm Romy Tschopp auf ihrem Snowboard so sicher den Hang hinunterschwingt, dass selbst Fussgänger staunen.
«In diesen Momenten auf dem Snowboard fühle ich mich völlig frei und unbeschwert. Ich vergesse den Rollstuhl», sagt sie über ihre Abfahrten, «und meine Krankheit existiert für kurze Zeit nicht.» Doch der Sport, im richtigen Mass betrieben, helfe ihr auch im Alltag. Sie spürt mehr Kraft. Auch steht sie stabiler auf ihren Beinen, beteuern ihre Vertrauten, und selber stellt sie fest, dass sie nicht mehr so häufig stürzt. Der Sport ergänze ihre Neuro-Physiotherapie ideal, die sie in Gelterkinden besucht.
Paralympics in Peking
Das Mitfahren im Nationalteam weckt sportliche Gelüste. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele Europacup- und Weltcuprennen zu bestreiten. In einem anderen Zusammenhang sagt sie zwar, dass sie sich abgewöhnen musste, sich Fernziele zu setzen und lieber im Jetzt zu leben. Eine Ausnahme gibt es aber. Sie betrifft die nächsten Winter-Paralympics, die Olympischen Spiele der Behinderten: 2022 möchte sie in Peking starten. Nicht gleich auf dem Treppchen, aber auf dem Brettchen will sie dort schon stehen. Ihr Umfeld hat für sie einen Unterstützungsverein ins Leben gerufen. «Vuori» heisst er, das finnische Wort für «Berg». Solche lassen sich mit viel Wille versetzen – und der ist ihr nicht abzusprechen.
Natürlich sorgt Romy Tschopp regelmässig für Erstaunen, wenn sie im Rollstuhl zur Gondel fährt, diese dann nur mit der Hilfe anderer überhaupt betreten kann, dann aber – auf dem «vuori» angekommen – locker auf dem Snowboard zu Tal fährt, ohne dass ihr jemand ihre starke Beeinträchtigung anmerken würde. Doch das hat seine Logik: Auf dem Brett sind ihre Beine fixiert, und ihre starke Rumpf- und Oberschenkelmuskulatur kommt im wahrsten Sinn zum Tragen.
Das muss sie oft auch staunenden Fremden erklären. Kürzlich beobachtete sie Leute auf der Piste, die tuschelnd zu ihr blickten. Sie hatten zuvor die gleiche Romy Tschopp, die nun vor ihnen auf dem Snowboard stand, beobachtet, wie sie sich unten im Rollstuhl in den Bus mühte. Sie ging auf sie zu und schilderte ihnen in ihrer offenen Art ihre Krankengeschichte. Mit dem Begriff Spina bifida können zwar viele nichts anfangen. Da sei es gerade in Skigebieten oft hilfreich, anfügen zu können: «Wie Siri, Maria Wallisers Tochter.»