"Sobald der Pestzug vorbei war, ging es fröhlich weiter"
08.01.2021 Baselbiet, GesellschaftRomanautor Werner Ryser über Seuchen und Religion, die Kantonstrennung und Auswanderer nach Georgien
Der Basler Schriftsteller Werner Ryser hat sein neues Buch «Die grusinische Braut» vorgelegt. Wie schon in den historischen Romanen zuvor lässt sich Ryser auch dieses Mal von den ...
Romanautor Werner Ryser über Seuchen und Religion, die Kantonstrennung und Auswanderer nach Georgien
Der Basler Schriftsteller Werner Ryser hat sein neues Buch «Die grusinische Braut» vorgelegt. Wie schon in den historischen Romanen zuvor lässt sich Ryser auch dieses Mal von den spannenden Geschichten der Vorfahren aus seiner eigenen Familie inspirieren.
David Thommen
Herr Ryser, Sie schreiben historische Romane. Die Handlungen spielen vor 200 oder 300 Jahren, wobei Sie sich der neueren Zeit nun langsam nähern. Über wen würden Sie schreiben, wenn Sie zeitgenössische Protagonisten aussuchen müssten?
Werner Ryser: Wahrscheinlich würde ich über Menschen schreiben, wie ich sie einst in meinem früheren Arbeitsleben als Sozialarbeiter betreut habe. Also über Drogenabhängige, Alkoholiker, sozial enorm Benachteiligte. Nicht unbedingt über Migranten, sondern über solche, die ihre Wurzeln hier in der Schweiz haben.
Menschen auf der Verliererseite des Lebens also, wie auch in Ihren Romanen. Was ist so anziehend an einem solchen Stoff?
Die Tragik. Die Tragik nämlich, dass sich solche Schicksale über Generationen hinweg fortpflanzen. Bei vielen Benachteiligten, mit denen ich zu tun hatte, waren schon die Eltern und Grosseltern in Heimen versorgt, bevormundet oder verdingt. Aber ich habe es immer geliebt, mit solchen Jugendlichen zu arbeiten: Sie haben eine ungeheure Kraft und tragen einen riesigen Widerstand in sich. Ich habe gerne mit ihnen «gefightet».
Eine Kraft, die man als Sozialarbeiter zum Nutzen der Jugendlichen transformieren kann?
Da mache ich mir keine allzu grossen Illusionen. Als ich später als Geschäftsführer zu Pro Senectute Basel-Stadt kam, schaute ich dort für einige Zeit beim Sozialdienst hinein. Es nahm mich wunder, was das Leben aus solchen Menschen gemacht hat, wenn sie alt sind. Es ist eine irre Tragik: Als Jugendliche haben sie eine riesige «Power», doch dann schleift sie das Leben ab: Sie verlieren die Stelle, die Wohnung, haben keine Familie und keine Freunde. Am Schluss sind es nur noch geduckte Menschen. Einen solchen Lebenslauf würde ich gerne einmal in einem Roman verarbeiten.
Ein Buch ohne Happy End?
So ist das Leben. Ich bin eigentlich ein sehr fröhlicher Mensch, doch ich schreibe düstere Bücher, weil die Realität halt häufig düster ist.
Ist es schon fast ein Naturgesetz, dass sich das Verlierertum fortpflanzt?
Es ist ein Sozialgesetz. Natürlich gibt es Ausnahmen, doch in der Regel bleibt unterprivilegiert, wer es von der Herkunft her bereits war. Solche Familien sind arm, häufig wird daheim geschlagen, die Kinder werden nicht gefördert. Eltern müssen ihre Kinder unterstützen und fördern, wenn sie ans Gymnasium sollen, doch das ist in solchen Familien fast undenkbar. Das mag der Grund dafür sein, weshalb ich Sozialarbeiter geworden bin. Ich selber komme aus einer Familie, die anderen – vor allem aus einem christlichen Gedanken heraus – immer geholfen hat. Ich war schon früh Jungscharund dann Sonntagsschulleiter. Bei mir ist das vermutlich in der DNA …
Haben Sie während Ihrer Tätigkeit Rezepte gefunden, wie man den Teufelskreis durchbrechen kann?
Nein, kein allgemeingültiges. Aber die beste Variante ist bestimmt die Bildung.
Sie schreiben in Ihren Büchern viel von Krankheiten und Seuchen wie Tuberkulose oder Cholera, mit denen die Menschen früher enorm zu kämpfen hatten. Was würde Covid-19 bei Ihnen für eine Rolle spielen?
Seuchen hat es immer gegeben – wer einen historischen Roman schreibt, kommt um dieses Thema nicht herum. Sie suchen wie nun Covid-19 die Menschen regelmässig heim. Die Menschheit ist deswegen früher fromm geworden, die Leute gingen in die Kirche, veranstalteten Prozessionen und so weiter. Auch Corona rüttelt die Menschen auf. Doch ich bin überzeugt, dass wir sofort wieder in den gleichen Trott wie zuvor zurückfallen, sobald es vorüber ist. Das lehrt uns die Geschichte: Sobald der Pestzug vorbei war, ging es fröhlich weiter. An die Vorstellung, dass Covid die Menschen zu irgendeiner Einsicht oder zu einer Verhaltensänderung bringt, glaube ich nicht. Vermutlich würde ich versuchen, dies in einem Roman herauszuarbeiten: Wie die Toten und die vollen Intensivstationen vergessen werden, wie der Applaus aufhört, wie die Löhne des Pflegepersonals gleich tief bleiben. Wie gesagt, ich neige zu düsteren Büchern …
In Ihrem vorletzten Roman «Geh, wilder Knochenmann» erkranken die Menschen an Tuberkulose. Anders als heute nahmen die Menschen früher eine solche Krankheit erstaunlich klaglos hin. War man vor 200 oder 300 Jahren noch härter im Nehmen?
Die Menschen mussten härter im Nehmen sein. Beispielsweise war die Kindersterblichkeit erschreckend hoch, jedes dritte Kind starb vor dem fünften Lebensjahr. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei nur 40 Jahren. Tuberkulose war die Haupttodesursache, daneben gab es eine Unzahl weiterer Krankheiten. Man hat mit dem Tod gelebt und hatte deshalb auch ein anderes Verhältnis dazu. Ich recherchiere gerade zu einer Frau, der innerhalb einer Woche gleich vier Kinder an der Diphtherie wegstarben. Ich frage mich aus heutiger Sicht: «Wie überlebt man als Mutter so etwas?» Sie jedenfalls hat einfach weitergemacht. Aber vermutlich war ein Leben damals auch weniger wert als heute.
Religiosität spielt in Ihren Romanen eine grosse Rolle. Häufig sind Ihre Protagonisten Täufer, die früher Opfer einer brutalen Verfolgung waren. Entstammen Sie selber einer Täuferfamilie?
Nein. Die Romane «Das Ketzerweib» und «Die Revoluzzer» sind inspiriert von der Geschichte der Vorfahren meiner Ehefrau – neun Generationen zurück. Sie waren Täufer im Emmental, wurden aber verbannt und siedelten sich zuerst im Jura an, wo sie geduldet waren, später zogen sie ins Baselbiet weiter. Sie liessen sich bei Reigoldswil nieder, genauer auf dem Hof Bürten hoch oben auf der Wasserfallen.
Im Roman «Die Revoluzzer», bei dem es um die Kantonstrennung 1832/33 geht, lebt diese Familie allerdings auf einem Hof in Waldenburg …
Ja, ich habe Waldenburg gewählt, weil sich die Handlung dort konzentrierter erzählen lässt: Der Pass, das «Stedtli», die Burg, der Vogt, der baseltreue Pfarrer – anders als auf der Wasserfallen ist dort alles vorhanden. Als Romanautor kann ich mir bei der Handlung alle Freiheiten nehmen, nicht aber bei den historischen Fakten.
Die Täufer kommen bei Ihnen zumeist als Opfer vor. Handkehrum beschreiben Sie diese in manchen Passagen als intolerant und hartherzig. Was haben Sie für ein Gefühl gegenüber den Täufern?
Ein zwiespältiges. Einerseits ist es faszinierend, wie sie sich gegen die Obrigkeit aufgelehnt haben. Es war eine gewaltige Leistung, im 16. Jahrhundert den Militärdienst und den Treueeid auf den Vogt zu verweigern. Andererseits war den Täufern eine gnadenlose Härte eigen, wenn Mitglieder der eigenen Gemeinschaft gegen deren Regeln verstiessen. Ich beschreibe im Roman «Die grusinische Braut» das Schicksal eines jungen Mädchens, das nach einer Vergewaltigung schwanger wurde und von den Eltern und der ganzen Gemeinschaft verstossen worden ist. Man nennt das «Meidung». Heute wird das meines Wissens nicht mehr praktiziert, aber ich habe noch jemanden gekannt, der aus seiner Gemeinschaft ausgestossen worden ist, weil er sich scheiden liess. Mit ihm hat niemand mehr gesprochen, auch die Eltern und die Verwandten nicht – das ist der soziale Tod.
Haben Sie in Reigoldswil und vor Ort recherchiert?
Sehr viel, ich habe unwahrscheinlich viel gelesen. Ich habe alle Orte der Handlung abgewandert. Ich habe auch mit den Füssen recherchiert …
In Ihren Büchern kommen vor: Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Vernachlässigung, Unterdrückung, Machtmissbrauch, Aberglaube, bittere Armut, Seuchen, Krieg. Die Auflistung ist unvollständig. Ganz banal gefragt: Wie froh sind Sie, im Jahr 2020 und nicht 1720 zu leben?
Sehr! (Lacht)
Gibt es dennoch Dinge, die früher besser waren – die man heute vermissen sollte?
Sicher war die Solidarität beispielsweise in einer Dorfgemeinschaft sehr viel grösser als heute. Man half sich, wo immer es ging. Doch dies geschah zum Preis einer ungeheuren sozialen Kontrolle, unter der viele Menschen litten. Ich würde mir das nicht zurückwünschen, auch wenn ich finde, dass die Vereinzelung heute zu weit fortgeschritten ist.
Also gibt es nichts, was wir vermissen sollten?
Was ich an der Zeit von damals bewundere, ist der unglaubliche Mut, den die Menschen aus der Not heraus entwickelt haben. Mein Grossvater beispielsweise beschloss mit 18 Jahren, aus dem Emmental nach Georgien auszuwandern, obwohl er vermutlich keine Ahnung hatte, wo Georgien überhaupt liegt. Er wusste nur, dass er die Donau hinunter musste. Die Reise dauerte damals drei Monate, die Entbehrungen waren riesig. Dann breitete sich auf dem kleinen Flussschiff – eine Art Fähre – die Cholera aus und raffte viele der Passagiere dahin. Schliesslich kam auch noch der Bruder meines Grossvaters auf dieser Reise ums Leben. Doch er konnte all diese Schicksalsschläge wegstecken und reiste unbeirrt weiter bis zum Ziel – mit einem unglaublichen Willen. Wir Schweizer können uns das kaum mehr vorstellen. Allerdings machen Migranten, die heute übers Mittelmeer fahren, wohl Ähnliches durch.
Ihr neues Buch «Die grusinische Braut» ist im Kern also die Geschichte Ihres Grossvaters?
Ja, wobei ich die Handlung zeitlich früher stattfinden lasse. Mein Grossvater war in eine reiche Bauernfamilie im Emmental hineingeboren worden, doch dann wurde er Waise, als er noch ein Kind war. Der Hof, den er später geerbt hätte, wurde unter den anderen Grossbauern im Ort aufgeteilt. Der Knabe wurde verdingt und hatte in der Folge ein so elendes Kinderleben, wie man sich das heute nicht mehr vorstellen kann. Mit 18 Jahren packte er seine wenigen Sachen und wanderte wie gesagt nach Georgien aus, wo er als Käser auf einen grossen Landwirtschaftsbetrieb mit 2000 Stück Vieh kam.
Und diesen grossen Betrieb schliesslich auch übernehmen konnte.
Die Geschichte ging so: Die jüngste Tochter des dortigen Gutsbesitzers war damals vermutlich von einem Offizier geschwängert worden. Der reiche Gutsbesitzer befahl kurzerhand dem jungen Käser, diese junge Frau zu heiraten, um die Schande von der Familie abzuwenden. So ging das damals … Später dann konnte mein Grossvater dank dieser Heirat den Betrieb übernehmen.
Waren Sie selber in Georgien auf Recherche?
Ja, drei Mal. Anders als mein Grossvater war ich mit dem Flugzeug in vier Stunden in Tiflis und brauchte nicht drei Monate ...
Was haben Sie von Ihrer Familie noch vorgefunden?
Der Gutshof liegt in einer Steppe rund 100 Kilometer südlichwestlich von Tiflis. Er war wenige Jahre vor meinem Besuch abgebrannt. Es war nur noch eine Ruine da. Dennoch war es für mich berührend, auf dem einstigen Hof meines Grossvaters zu stehen …
Hat Ihre Familie mit diesem Landwirtschaftsbetrieb heute noch etwas zu tun?
Längst nicht mehr. Der Hof wurde nach der Revolution 1917 kurzerhand enteignet, verstaatlicht und fortan als Kolchose weiterbetrieben. Da den georgischen Bolschewiken das Know-how für die Käseherstellung fehlte, wurde mein Grossvater als Kolchosenverwalter eingesetzt und es wurde dort weiterhin georgischer Emmentaler produziert.
Und der Grossvater machte gute Miene zum bösen Spiel?
Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. 1933 dann wurde er ausgewiesen. Mein Grossvater durfte nur mitnehmen, was er tragen konnten. Er, der einst ein stolzer Gutsherr war, kam bettelarm in die Schweiz zurück, er wurde «armengenössig» und musste sich im Emmental als Wald-Hilfsarbeiter über Wasser halten. Er war also wieder dort, wo er als Verdingbub schon einmal war. Später gelang es ihm, sich nochmals aufzurappeln – er baute eine Hühnerfarm auf. Diese brannte nach einem Kurzschluss nieder und versichert war er nicht. Kurz darauf starb er mit etwas mehr als 70 Jahren. Ich denke, er hatte langsam genug vom Ganzen …
Ist man zum Schreiben historischer Romane fast schon «verdammt», wenn es in der eigenen Familie solch spannende Geschichten gibt?
Dann gäbe es sehr viele solcher Romane, denn Auswanderer und aus religiösen Gründe Verfolgte gibt es in wohl fast jeder Schweizer Familiengeschichte.
Sie gehen bei Ihren Romanen zum Teil stark auf historische Details ein. Gibt es einen Faktencheck?
Ich habe einen Lektor, der alles akribisch überprüft. Dazu berät mich ein Arzt, wenn es um Seuchen und Krankheiten geht. Ich beschreibe beispielsweise in meinem neuen, noch unveröffentlichten Roman eine Amputation von anno 1917. Daran haben wir sehr lange herumgekaut, bis wir so weit waren, dass alles den historischen Tatsachen entspricht.
Die Männer kommen in Ihren Büchern häufig als brutale Täter vor – als Rüpel,Vergewaltiger und so weiter. Haben sich Männer in den vergangenen 200 Jahren stärker gewandelt als die Frauen?
Männer haben in der Tat nicht eine sehr rühmliche Rolle gespielt. Doch tun sie das heute? Insgesamt wohl schon. Aber wenn man, wie ich das getan habe, ein Heim mit 13- bis 20-jährigen, drogenabhängigen Mädchen leitet, merkt man rasch, dass es solche Männer immer noch gibt. Viele dieser Mädchen wurden geschlagen oder vergewaltigt. Auch die Frauenhäuser sind voll mit Frauen, die Opfer gewalttätiger Männer geworden sind. Die Männer aus der Mittelschicht haben sich zweifellos stark gewandelt, da Gewalt gegen Frauen mittlerweile geächtet ist. Bei den Männern aus unterprivilegierten Verhältnissen bin ich mir nicht so sicher.
Frauen sind in Ihren Büchern häufig Opfer, gleichwohl beschreiben Sie sie als stark und widerständig.
Die Frauen mussten lernen, stark zu werden und viel zu ertragen, sonst wären sie als Opfer untergegangen. Frauen, auch wenn sie viel zu erdulden hatten, waren schon früh häufig stärker als Männer. Selbst in meinem Elternhaus war das so: Mein Vater war eine schwächere Persönlichkeit als meine Mutter, was wohl auch der Grund war, weshalb er gegen die Einführung des Frauenstimmrechts gestimmt hat (lacht).
Sie waren schon im fortgeschrittenen Alter, als Sie Ihren ersten historischen Roman herausgaben. Bedauern Sie heute, dass Sie nicht früher voll aufs Schreiben gesetzt haben?
Überhaupt nicht. Schreiben ist nur eine Art Ersatzleben – ich wollte richtig leben. Und ich hatte schliesslich auch eine Familie zu ernähren. Aber ich habe schon immer gern geschrieben, schon mit 10 Jahren fing ich meinen ersten Roman an … Schreiben war für mich immer Freude und Ausgleich. So habe ich als noch junger Vater für unsere Kinder einen Roman geschrieben. Kürzlich, während des Lockdowns, kramte ich diesen wieder hervor und las an den Abenden meinen Enkeln via Skype daraus vor. Sie reagierten so begeistert, dass meine Frau fand, ich solle die alte Kindergeschichte einmal einem Verlag schicken. Ich habe sie tatsächlich zwei Verlagen angeboten – und beide wollten sie. Peinlicherweise musste ich dann einem der beiden absagen … Das Kinderbuch wird im kommenden Herbst erscheinen.
Mit den historischen Romanen haben Sie erst vor der Pensionierung begonnen …
Ja, aber das war eigentlich gar nicht mein Plan. Wir hatten in den 90er-Jahren im Goms einen Stall gekauft, den wir dann umgebaut haben. Mich begann die Geschichte des Tals zu interessieren, ich habe recherchiert und bin auf die Geschichte von drei Mädchen gestossen, die als Hexen verbrannt worden sind. Ich habe daraus eine Erzählung gemacht und schickte das Manuskript einem kleinen Walliser Verlag. Das Buch schlug zu meiner Überraschung total ein. Bald klopfte ein grosser Verlag an, der das Buch dann seinerseits herausgab. So fing das an.
Zurück aus dem Wallis in die Region und zum Buch «Die Revoluzzer». Spielt es im Bewusstsein der Menschen heute noch eine Rolle, dass es 1832/33 nach wüsten Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Land zur Kantonstrennung gekommen ist?
Meiner Meinung nach nicht. Ich wundere mich ehrlich gesagt immer wieder, wie wenig viele Leute in beiden Basel darüber wissen.
Weshalb ist das so?
Von Baselbieter Seite her ist es vermutlich unangenehm, daran erinnert zu werden, dass man lange Zeit in Leibeigenschaft leben musste und auch noch nach der Französischen Revolution weiterhin unterdrückt wurde. Übrigens wurden auch die meisten Stadtbewohner von einer ganz dünnen Oberschicht geknechtet – die meisten hatten beispielsweise kein Stimmrecht. In Basel wird dies ebenfalls gerne verdrängt. Ich hätte mir bei all den Wiedervereinigungsdiskussionen gewünscht, dass man mehr den Fokus darauf gelegt hätte, warum es damals zur Trennung gekommen ist. Aber soweit ich weiss, wird das auch heute an den Schulen kaum im Geschichtsunterricht behandelt.
Aus einer Art Scham heraus?
Vielleicht. Interessanterweise habe ich festgestellt, dass bei den Mitgliedern der «Daig»-Familien, die ich kennengelernt habe, die Geschichte sehr viel präsenter ist. Es gibt immer noch einen Groll darüber, dass man die Landschaft verloren hat. Allerdings hat sich die Landschaft damals völlig zu Recht von Basel gelöst. Andernorts wie in Zürich, Bern und Luzern gab es die genau gleichen Konflikte. Dort ist es jedoch gelungen, sich irgendwie zu versöhnen. Nur nicht in Basel, wo es eine reaktionäre Oberschicht gab, die zu stur war, um den berechtigten Anliegen der Landbevölkerung entgegenzukommen.
Gedanklich nochmals kurz zurück auf die Wasserfallen: Gehört Ihre Ehefrau immer noch zu den Täufern?
Nein. Ihre Vorfahren in Reigoldswil waren es damals auch nur noch halbwegs. Der Hof Bürten wurde irgendwann verkauft und die Familie zog nach Liestal. Aus den Leuten wurden Fabrikarbeiter, der Grossvater meiner Frau war Pöstler und Gewerkschafter, der sogar Landrat wurde. Vom Täufertum hat sich diese Familie längst verabschiedet.
Generell spielt die Religion heute – anders als vor 200 Jahren – eine nur noch kleine Rolle. Fluch oder Segen?
Man muss zwischen Kirche und Religion unterscheiden. Unbestritten spielen religiöse Gefühle weiterhin eine grosse Rolle. Dass aber die Kirche an Bedeutung verloren hat, ist nicht zu bedauern. Sie hatte 2000 Jahre lang Zeit, den Beweis zu erbringen, dass sie die Welt zu einem besseren Ort machen kann. Sehr erfolgreich war ihr Personal dabei nicht. Sie stand zu lange auf der Seite der Mächtigen. Gerade die katholische Kirche hat in der Geschichte viel Leid über die Menschen gebracht, man denke nur an die Inquisition und die Hexenverbrennungen. Aber auch die protestantische Kirche hat eine zweifelhafte Vergangenheit. Man lese einmal die antisemitischen Texte von Luther oder die unerbittlich gnadenlosen Religionsauffassungen von Calvin. Auch Zwingli mit seiner intoleranten Haltung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften wie den Täufern wäre anzuführen.
Sie selber sind aus der Kirche ausgetreten?
Vor mehr als 50 Jahren. Ich bin streng pietistisch erzogen werden. Dazu gehörte auch die Angst vor der Verdammnis. Der Tag begann mit einer Lesung aus den frommen «Herrnhuter Losungen». Das war nicht meine Welt. Nebenbei: Bei meinen Besuchen in Georgien habe ich alte Nachfahren von einstigen Auswanderern aus dem Königreich Württemberg getroffen – sie lesen sich auch heute noch täglich aus den «Herrnhuter Losungen» vor. Immer noch in schwäbischem Dialekt …
Ihr nächster Roman spielt wieder in Georgien?
Ja, die Handlung endet 1941 mit der Vertreibung und Deportation aller Nachfahren der Einwanderer aus Deutschland und der Schweiz, die einst in Georgien das gelobte Land gesehen hatten. Eine wiederum düstere Geschichte.
Zur Person
tho. Werner Ryser (73) ist in Winterthur aufgewachsen, hat eine KV-Lehre gemacht und anschliessend die Sozialarbeiterausbildung in Zürich absolviert. 24-jährig kam er nach Basel, wo er während 13 Jahren in der Jugendfürsorge der Bürgergemeinde tätig war. Ryser war damals Amtsvormund für bis zu 150 Kinder und Jugendliche. Danach leitete er das Basler Heim «In den Ziegelhöfen» für drogenabhängige Mädchen – «direkt vom Platzspitz». Anschliessend wurde Ryser zum Geschäftsleiter der Pro Senectute Basel-Stadt gewählt. Später, nach der Fusion, war er ebenfalls Geschäftsführer bei der Pro Senectute beider Basel. Berufsbegleitend besuchte er Kurse und Seminare in Non-Profit-Management an der Uni Freiburg. Parallel zur Arbeit gründete er vor mehr als 30 Jahren das Akzent-Magazin, eine vierteljährliche Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, die unter dem Dach der Pro Senectute herausgegeben wird. Ryser, der trotz seiner 50 Jahre in Basel seinen Winterthurer Dialekt nicht verloren hat, ist verheiratet («mit einer Liestalerin»), hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder.
Erschienen sind unter anderem: «Walliser Totentanz» (2009), die Geschichte aus dem 16. Jahrhundert einer vermeintlichen Hexe aus dem Wallis. «Das Ketzerweib» (2016) über die Verfolgung der Täufer im Emmental. Der Fortsetzungsroman «Die Revoluzzer» über die Trennung der beiden Basel; die Handlung spielt grösstenteils in Waldenburg. «Geh, wilder Knochenmann» (2019) über die Verdingung eines Bauernbubs aus dem Emmental sowie der Fortsetzungsroman «Die grusinische Braut» (2020) über die Geschichte des ehemaligen Verdingbubs nach seiner Auswanderung nach Georgien. «Grusinisch» bedeutet georgisch. An dieses Buch knüpft der nächste Roman an, die «Kaukasische Sinfonie». Er erscheint im Frühjahr 2022.