Adieu, Apfelbaum!
17.12.2020 Region, SportAdieu, Apfelbaum!
Wenn Grossmutti am Stubentisch sitzt, schaut es meist hinaus in den Garten. Manchmal aber schweift sein Blick auf den Sims davor und die aufgereihten Postkarten, alle mit Motiven aus den Schweizer Alpen. «So habe ich jeden Tag eine wunderbare ...
Adieu, Apfelbaum!
Wenn Grossmutti am Stubentisch sitzt, schaut es meist hinaus in den Garten. Manchmal aber schweift sein Blick auf den Sims davor und die aufgereihten Postkarten, alle mit Motiven aus den Schweizer Alpen. «So habe ich jeden Tag eine wunderbare Aussicht. Wenn du mir immer so schöne Karten schickst, muss ich nicht mehr in die Berge», sagte Grossmutti kürzlich und lachte. Ende November wars, einer meiner letzten Besuche in dem Haus, wo ich mein Leben lang ein- und ausging. Denn statt in die Berge fährt mein 98-jähriges Grossmutti bald ins Altersheim. Und so wurde aus dem Gespräch über Postkarten eine Reise in die Vergangenheit – auf zwei Rädern, zu Fuss und kraxelnd auf den Apfelbaum im Garten.
Den haben mein Bruder und ich am liebsten erklettert. Vom höchsten Ast aus konnte man gar Liestals Bahngleise sehen. Nun heisst es Abschied nehmen. Adieu, Apfelbaum! Es bleiben wunderbare Erinnerungen.
Wunderbar auch Grossmuttis Erzählungen an diesem Tag. Zwar kenne ich die meisten, doch ich wollte sie alle nochmals in der vertrauten Umgebung hören. Und so beschreibt Grossmutti mir noch mal den Weg, auf dem es anno 1937 täglich mit dem Dreigang-Velo von Hölstein nach Waldenburg in die Bezirksschule fuhr – mit wollenen Handschuhen, einer Wolljacke und im Rock. «Wir hatten keine spezielle Kleidung, die vor Wind und Kälte geschützt hätte. Im Winter gefror mir der Unterrock.» Ich denke an mein Rennvelo mit elektronischer Schaltung, die Radhose mit Windstopper-Membran. Und bin ein bisschen beschämt.
Grossmutti erzählt vom Wandern, und die blauen Augen leuchten. Die Lieblingstour? Es muss nachdenken. Kein Wunder, es war lange Jahre Mitglied im Schweizerischen Alpenclub und später bei der Pro Senectute Liestal. Gewandert ist es oft. Aber über meine Frage, welche Ausrüstung sie gehabt hätten, wundert es sich: «Nichts Besonderes.» Keine Stöcke also, kein Goretex, kein Windstopper. Nur Blusen aus Baumwolle. Mammuttouren schafften sie dennoch.
«Einmal liefen wir um Mitternacht los von Liestal via Lupsingen und die Bretzwiler Höhe auf den Passwang. Auf der Hohwacht machten wir Rast, es gab Chlöpfer mit Brot und Tee», erinnert Grossmutti sich an die wohl verrückteste Tour. Sähe es die Verpflegung heutiger Berggänger, mit Proteinriegeln, Chips und isotonischen Getränken – Grossmutti verstünde die Welt nicht mehr.
Seine Welt wird bald anders aussehen. Nicht aber die Aussicht, denn Postkarten kann man auch ins Altersheim schicken. Zum Beispiel vom Bachalpsee ob Grindelwald. Es war Grossmuttis Lieblingstour. Und dorthin will ich im Sommer wandern.
Seraina Degen (34) ist in Niederdorf aufgewachsen. Als Torhüterin spielte sie lange leidenschaftlich Fussball, heute bleibt sie beruflich am Ball – als Redaktorin bei SRF Sport.