«Wir haben kein Sicherheitsproblem»
15.12.2020 Bezirk Sissach, Verkehr, GelterkindenBürgerliche ergreifen Referendum gegen flächendeckend Tempo 30
Ein bürgerliches Komitee stemmt sich gegen Tempo 30 auf allen Gelterkinder Quartierstrassen. Komitee-Präsident Pascal Catin sagt, warum er die Massnahme für überrissen und für eine Bevormundung ...
Bürgerliche ergreifen Referendum gegen flächendeckend Tempo 30
Ein bürgerliches Komitee stemmt sich gegen Tempo 30 auf allen Gelterkinder Quartierstrassen. Komitee-Präsident Pascal Catin sagt, warum er die Massnahme für überrissen und für eine Bevormundung hält.
Christian Horisberger
Viele Dörfer – grosse und kleine – haben es zum Teil längst eingeführt und sehen darin nur Vorteile. Tempo 30 ist anerkannt und verbreitet. Sie haben dagegen das Referendum ergriffen. Herr Catin, warum soll Gelterkinden rückständig bleiben?
Pascal Catin: Auf Tempo 30 zu verzichten, ist nicht eine Frage der Rückständigkeit. Es gibt diverse Gründe, die gegen flächendeckend Tempo 30 sprechen. An erster Stelle der fehlende Bedarf: Es ist eine grosse Einschränkung wegen eines Sicherheitsproblems, das wir gar nicht haben. In unseren Wohnquartieren wird angemessen und rücksichtsvoll gefahren. Tempomessungen haben gezeigt, dass in den meisten Quartierstrassen schon unter 37 gefahren wird. Flächendeckend Tempo 30 hat verkehrstechnisch und finanziell so grosse Auswirkungen, dass wir finden, die gesamte Bevölkerung soll an der Urne darüber entscheiden.
Geringere Tempi beruhigen den Verkehr; infolgedessen wirken sie vorbeugend gegen Unfälle beziehungsweise schwere Unfälle. Bestreiten Sie dies etwa?
An der Informationsveranstaltung im Januar, die auch ich besucht habe, hat das Ingenieurbüro, das Messungen vorgenommen hatte, klar aufgezeigt, dass wir kein Sicherheitsproblem haben, also eine Temporeduktion die objektive Sicherheit nicht erhöht. Allenfalls habe sie eine Auswirkung auf die subjektive, die empfundene Sicherheit. Auch laut Unfallstatistik haben wir kein Problem.
Sie sprechen Eltern an, die ihre Kinder bei Tempo 30 sicherer wähnen, wenn diese alleine unterwegs sind?
Das Ganze ist subjektiv. Wenn ich alleine unterwegs bin, habe ich selber ja auch ein grösseres Sicherheitsempfinden, als wenn ich beispielsweise mit zwei Kindern oder einer älteren Person unterwegs bin.
Dann fordern die mehr als 900 Personen, welche die Petition unterzeichnet haben, etwas Unverhältnismässiges?
Man hat vielleicht eine romantische Vorstellung von Tempo-30-Zonen. Aber es handelt sich um keine Spieloder Begegnungszonen. Der Verkehr rollt dort vielleicht langsamer, hat jedoch weiterhin Vortritt.
Wären Sie denn punktuell mit Tempo 30 in gewissen Bereichen einverstanden?
Wo das Sinn ergibt, soll man darüber diskutieren, ja. Aber das ist bisher zu wenig geschehen. Nun haben wir flächendeckend Tempo 30 auf dem Tisch. Darüber soll man diskutieren und dazu ist das Referendum da.
Sie haben vorhin auch finanzielle Auswirkungen erwähnt. Verglichen mit anderen Investitionen, die Gelterkinden in den vergangenen Jahren tätigte, sind etwas mehr als 300 000 Franken für die Umsetzung der Massnahme ein Klacks.
Das mag so aussehen. Allerdings zeigt unser Finanzplan ein strukturelles Defizit von jährlich über 2 Millionen Franken. Wir können daher auch vor einem Betrag von 336 000 Franken nicht die Augen verschliessen, wenn die Ausgabe keine Wirkung zeigt. Zudem reicht dieses Geld gar nicht aus. Nach der Einführung muss es Nachkontrollen geben mit weiteren verkehrsberuhigenden Massnahmen. Dann wird es massiv teurer.
Woher nehmen Sie diese Gewissheit?
Die Forderungen werden nicht abnehmen, davon bin ich überzeugt. Man kann das auch in anderen Gemeinden beobachten.
Was verbindet die Personen, die hinter dem Referendum stehen?
Das Komitee besteht bisher aus sechs Personen, eher aus dem bürgerlichen Spektrum: Parteilose, FDP, SVP, dem Bürgerlichen Zusammenschluss nahe. Aber wir treten als separates Komitee auf.
Geht es allenfalls auch darum, ein liberales Zeichen zu setzen? Eigenverantwortung anstelle von Verboten?
Ja, natürlich auch. Flächendeckend Tempo 30 ist eine unnötige Bevormundung. Diese Einschränkung braucht es nicht. Ausgenommen von einzelnen schwarzen Schafen fahren die Gelterkinder mit den Gegebenheiten angepasstem Tempo. Freiwillig.
Sie haben im Januar am Tempo-30-Workshop teilgenommen, als Gegner schienen sie sich dort kein Gehör verschafft zu haben. Das Ergebnis daraus lautete klar: Tempo 30 muss her! Was ist schiefgelaufen?
Es haben rund 110 Personen teilgenommen, vielleicht 10 von ihnen waren dagegen. Am Workshop wurden Gruppen gebildet, die verschiedene Aspekte berieten, wir wurden auf die Gruppen verteilt. Die Mehrheitsmeinung war jeweils pro Tempo 30. Wir gingen unter. Mit einem anderen Format der Bevölkerungsbeteiligung hätte unsere Position mehr Gewicht erhalten.
Sie gehen nun den Weg übers Referendum. Hätten Sie für die Gemeindeversammlung mobilisiert, wäre die Hürde weniger hoch gewesen …
Wir haben absichtlich nicht mobilisiert. Wenn wir es getan hätten, hätte die Versammlung womöglich abgesagt werden müssen. Wir wollten aber spüren und hören, was an der «Gmäini» passiert, wie es in der Bevölkerung aussieht. Ich war überrascht, wie viele Menschen dagegen stimmten, obwohl wir nicht gezielt mobilisiert hatten. Und ich bin überzeugt, dass wir die 429 Unterschriften für das Referendum zusammenbringen werden – selbst unter den zurzeit eher schwierigen Bedingungen.
Wie werden Sie sammeln?
Coronabedingt werden wir ausser mit kleineren Aktionen nicht auf der Strasse präsent sein. Die Website www.tempo30gelterkinden.ch ist bereits online, wir werden Unterschriftenbögen an alle Haushalte verschicken und individuell unsere persönlichen Netzwerke nutzen. Bis 8. Januar haben wir Zeit zum Sammeln.
Die Website steht schon? Sie scheinen fest mit einem Ja der Gemeindeversammlung gerechnet zu haben …
Als im November der Gemeinderat mit der Maximalvariante kam, haben wir uns konkret vorbereitet. Und die Wahrscheinlichkeit war in der Tat sehr hoch, dass es ein Ja geben würde.
Der Gemeinderat mit einer bürgerlichen Mehrheit hat die Maximalvariante vorgeschlagen. Sind Sie von ihm enttäuscht?
Es blieb ihm nicht viel anderes übrig als mit dieser Variante zu kommen. Das Votum aus der Bevölkerung mit der Petition und am Workshop war deutlich, Gegenstimmen wurden kaum laut. Daher verstehe ich den Gemeinderat. Ich aber hätte mir eine Variante gewünscht. Darauf kam man noch nicht zu sprechen. Es gäbe andere Möglichkeiten: punktuelle Massnahmen.
Der Gemeinderat argumentierte, flächendeckend sei kostengünstiger als Einzelmassnahmen. Sehen Sie das anders?
Ja. Mit den Nachfolgekosten reichen die 336 000 Franken bei Weitem nicht.
Wen hoffen Sie mit dem Referendum zu gewinnen? Wen sprechen Sie an?
Wir sprechen die gesamte Bevölkerung an, denn Tempo 30 betrifft uns alle. Bisher hat man nur die Petenten gehört und dann hatten wir eine Corona-Gemeindeversammlung. Wir denken, dass es sehr viele Gelterkinderinnen und Gelterkinder gibt, die kritisch eingestellt sind. Bezüglich der 429 Unterschriften fürs Referendum sind wir zuversichtlich. Dann geht es in Phase zwei, den Abstimmungskampf, von dem wir uns erhoffen, dass das Thema detaillierter und breiter diskutiert wird.