«Schlechtere Werbung für den Beruf gibt es kaum»
27.11.2020 Region, WirtschaftAusgefragt mit Samira Marti, VPOD-Präsidentin und SP-Nationalrätin
Die Gewerkschaft VPOD Region Basel fordert per Petition eine flexiblere Kinderbetreuung für Angestellte im Gesundheitswesen. VPOD-Präsidentin und SP-Nationalrätin Samira Marti erklärt, was dies ...
Ausgefragt mit Samira Marti, VPOD-Präsidentin und SP-Nationalrätin
Die Gewerkschaft VPOD Region Basel fordert per Petition eine flexiblere Kinderbetreuung für Angestellte im Gesundheitswesen. VPOD-Präsidentin und SP-Nationalrätin Samira Marti erklärt, was dies bringen soll und wie der Pflegeberuf wieder attraktiver gemacht werden kann.
Tobias Gfeller
Frau Marti, wieso ist eine flexiblere Kinderbetreuung gerade im Gesundheitswesen so wichtig?
Samira Marti: Die stationären Aufenthalte von Patientinnen und Patienten mit Covid-19 nehmen zu, ebenso die Anzahl erkrankter Bewohnerinnen und Bewohner in den Alters- und Pflegeheimen. Gleichzeitig kommt es vermehrt zu krankheitsbedingten Personalausfällen. Die Öffentlichkeit diskutiert nun über die Anzahl Intensivbetten, die zur Verfügung stehen. Aber ein Platz auf der Intensivstation reicht nicht aus. Entscheidend ist, ob wir genügend gut ausgebildetes Pflegepersonal haben, das die Kranken pflegen kann. Von ihnen wird aktuell maximale Flexibilität eingefordert, aber gleichzeitig treffen sie auf die starren Strukturen der Kinderbetreuung. Das geht nicht auf.
Was will die Petition konkret?
Die Petition verlangt, dass die Kantone Baselland und Basel-Stadt zusammen mit den Gesundheitsinstitutionen umgehend flexible Kinderbetreuungsangebote für das Gesundheitspersonal installieren. Viele Mitarbeitende können ihr Pensum nicht erhöhen, weil die Vereinbarkeit mit der Familie nicht gegeben ist. Das vorhandene Angebot der Kinderbetreuung ist schlicht nicht auf die Bedürfnisse im Schichtbetrieb ausgerichtet. Das muss sich ändern.
Das Problem der Kinderbetreuung ist aber nicht neu, oder?
Nein, die Problematik der ungenügenden Betreuungsstrukturen existierte schon vor Corona. Die Pandemie macht nun aber die Folgen der fehlenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf sichtbarer. Es ist neben der Schichtarbeit, den tiefen Löhnen und den schlechten Arbeitsbedingungen ein Faktor mehr, der die Arbeit im Gesundheitswesen heute unattraktiv macht. Das sollte uns zu denken geben.
Was will der VPOD und was wollen Sie als Nationalrätin unternehmen, um die Wertschätzung zu steigern?
Die Corona-Pandemie hat nochmals deutlich aufgezeigt, wo die Probleme im Gesundheitsbereich liegen. Die Bettenanzahl in den Spitälern kann sehr schnell an die jeweilige Lage angepasst werden. Was fehlt, ist das Gesundheitspersonal zur Betreuung der erkrankten Menschen. Um diesen Mangel zu bekämpfen, braucht es dringend eine Aufwertung der Gesundheitsberufe. Dafür setzen sich der VPOD wie auch die SP seit Jahren ein. Wir bleiben dran.
Die Kinderbetreuung ist einer von vielen Mängeln, die vonseiten der Gewerkschaft im Gesundheitswesen kritisiert wird. Woran hapert es noch, dass der Beruf heute als unattraktiv angesehen wird?
Vor allem der Personalmangel nimmt massiv zu. In der Tendenz lässt sich sagen: Je besser die Ausbildung, desto höher der Mangel. Es fehlt an diplomierten Pflegefachpersonen und folglich an allen Berufsgruppen, die auf einer entsprechenden Weiterbildung beruhen. Das gilt auch für das Personal auf der Intensivstation. Aber der Kostendruck macht sich in allen Bereichen eines Spitals bemerkbar, nicht nur in der Pflege. Oftmals gehen die anderen Berufsgruppen vergessen, obwohl sie für den Betrieb eines Spitals ebenso relevant sind wie beispielsweise die Hotellerie, die Reinigung oder die technischen Dienste.
Wie kann der Personalmangel künftig behoben werden?
Es braucht nicht nur genügend Ausbildungsplätze, sondern vor allem gute Arbeitsbedingungen, die das Gesundheitswesen zu einem attraktiven Arbeitsort machen. Die Quote an Berufsaussteigerinnen und Berufsaussteigern ist zu hoch. Bei den Fachangestellten Gesundheit verlässt jede vierte Absolventin schon sieben Jahre nach dem Lehrabschluss die Gesundheitsbranche.
Im Frühsommer haben wir für das Gesundheitspersonal voller Dankbarkeit applaudiert. Was ist davon übrig geblieben?
Leider nicht viel. Die Erfahrungen aus der ersten Welle haben gezeigt, dass in den Spitalleitungen und in den Regierungen bisher kein Umdenken stattgefunden hat. Nachdem die Zahlen gesunken sind, ist die Debatte um eine Aufwertung der Gesundheitsberufe wieder verstummt. Aktuell ist sogar mit einer Verschlechterung der Situation zu rechnen. Die Spitäler haben aufgrund der Einnahmenausfälle grosse finanzielle Probleme. Das hat massive Folgen für das Personal, wenn weder der Bund noch die Kantone einspringen. Die schlechten Erfahrungen während der Pandemie werden zudem den Personalmangel noch verschärfen. Der wirkungslose Applaus, der verringerte Gesundheitsschutz, die Mehrbelastung, das Aushebeln des Arbeitsrechts: Schlechtere Werbung für den Beruf kann es kaum geben.
Gibt es Zahlen beim VPOD Basel, wie viele Überstunden während der ersten Corona-Welle beim Pflegepersonal angehäuft wurden? Und konnten diese den Sommer hindurch abgebaut werden?
Wir haben keine Zahlen. Das Personal erzählt uns aber, dass im Sommer nur sehr begrenzt abgebaut werden konnte und dass sich die Überstunden aktuell schon wieder anhäufen. Teilweise wurde bereits angekündigt, dass eine zeitliche Kompensation nie möglich sein wird, sondern wohl einfach ausgezahlt würde.
Gibt es eine einigermassen einheitliche Meinung zu Corona und der Bekämpfung der Pandemie im Gesundheitswesen, oder sind die Stimmen divers, wie auch sonst in der Gesellschaft?
Die Rückmeldungen, die wir erhalten, sind ziemlich einheitlich. Wer im Gesundheitswesen arbeitet, erlebt die Pandemie tagtäglich hautnah. Da geht es vor allem um die unmittelbaren Erfahrungen mit den Patientinnen und Patienten, die immense Arbeitsbelastung und die grosse Unsicherheit.
Zum Schluss noch zum Thema Impfen: Der Druck auf das Pflegepersonal, sich gegen Corona impfen zu lassen, ist spürbar gross. Was löst das beim Personal aus?
Das Personal sagt uns: Je höher der Druck, desto weniger von ihnen werden sich impfen lassen. Das ist kontraproduktiv. Deshalb sprechen sie sich auch gegen ein Impfobligatorium aus. Stattdessen plädieren sie für eine gute Aufklärungsarbeit und Transparenz rund um den Impfstoff, so, wie das bei den üblichen Impfkampagnen in den Gesundheitsbetrieben der Fall ist.
Das Interview wurde schriftlich geführt.