«Die Situation dürfte sich verschärft haben»
11.09.2020 Baselbiet, GesellschaftAusgefragt: Elena Spinnler, Sozialarbeiterin Opferhilfe beider Basel
Die Opferhilfe beider Basel hat eine neue Website lanciert. Das Ziel: Eine verständliche und interaktive Website, auf der sich von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche über ihre Möglichkeiten ...
Ausgefragt: Elena Spinnler, Sozialarbeiterin Opferhilfe beider Basel
Die Opferhilfe beider Basel hat eine neue Website lanciert. Das Ziel: Eine verständliche und interaktive Website, auf der sich von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche über ihre Möglichkeiten informieren und bei Bedarf Unterstützung bekommen.
Nadja Vögtle
Frau Spinnler, Sie arbeiten als Sozialarbeiterin bei der Opferhilfe beider Basel. Was tut die Opferhilfe überhaupt?
Elena Spinnler: Die Opferhilfe ist eine Beratungsstelle für Menschen, die Opfer von körperlicher, psychischer und/oder sexueller Gewalt geworden sind. Jeder Kanton hat die Pflicht, eine solche Beratungsstelle zur Verfügung zu stellen. Die Opferhilfe beider Basel ist, wie es der Name schon sagt, für die beiden Kantone zuständig. Wir bieten einerseits Beratung an, in der wir zusammen mit den Opfern überlegen, wie es weitergehen kann. Andererseits leisten wir finanzielle Hilfe gemäss Opferhilfegesetz. Wir vermitteln Anwälte und Therapeutinnen, unterstützen bei der Eingabe von Entschädigung und Genugtuung. Wichtig ist, dass wir eine Schweigepflicht haben und nur nach Absprache nach aussen etwas unternehmen. Zusätzlich bieten wir auch Begleitung zu Terminen an wie etwa zur Polizei, um eine Anzeige zu erstatten.
Sie sind Kampagneleiterin des Projekts #bleibnichtallein. Im Rahmen dessen wurde Anfang September eine neue Website lanciert. Was bietet sie und wer ist die Zielgruppe?
Diese Website war schon lange ein Anliegen von uns, denn die allgemeine Internetpräsenz der Opferhilfe beider Basel ist eher auf Erwachsene ausgerichtet. Wir wollten speziell etwas für Kinder und Jugendliche erstellen, das einfach verständlich und interaktiv ist. Gleichzeitig sollen aber auch Eltern und Angehörige, Fachleute und Leitende von Freizeitangeboten bei Verdacht von Gewalt an Kindern oder Jugendlichen auf der Website Informationen finden.
2019 hatten Sie 850 Klientinnen und Klienten im Bereich Kinder und Jugendliche. Haben sich die Zahlen in den vergangenen Jahren verändert?
Wir stellen fest, dass die Zahl im Verlauf der vergangenen drei Jahre zugenommen hat. Das muss aber nicht zwingend heissen, dass die Gewalt an sich zugenommen hat. Es ist möglicherweise auch ein Zeichen dafür, dass viel früher Hilfe in Anspruch genommen wird und die Opferhilfe bekannter geworden ist. Zudem haben wir die Zusammenarbeit mit Fachpersonen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, intensiviert.
Während des Lockdowns mussten Schulen schliessen und die meisten Freizeitangebote standen nicht mehr zur Verfügung. Viele Menschen gingen durch schwierige Phasen und Familien lebten über Wochen auf ungewohnt engem Raum zusammen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Hat die Gewalt an Kindern und Jugendlichen zugenommen?
Wir gehen davon aus, dass sich die Situation während Corona verschärft hat. Während des Lockdowns haben sich jedoch deutlich weniger Kinder und Jugendliche bei uns gemeldet. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Schulen schliessen mussten. Ganz viele Kinder und Jugendliche vertrauen sich als erstes einer Lehrperson oder einem Schulsozialarbeitenden an und werden von da zu uns weitergeleitet. Dazu kommt, dass es für viele, gerade von häuslicher Gewalt betroffene Jugendliche oft schwierig ist, einen Termin ausserhalb des Schulalltags wahrzunehmen. Wir gehen aber davon aus, dass jetzt, wo der Schulbetrieb wieder anfängt, sich bald wieder mehr Kinder und Jugendliche bei uns melden werden.
Die Angebote der Opferhilfe sind gerade nach dieser schwierigen Zeit besonders wichtig. Wie hoffen Sie, dieses Angebot jungen Menschen näher zu bringen?
Einerseits haben wir alle Schulen, Institutionen, Psychotherapeuten, Kinderärztinnen und -ärzte in Baselland und Basel-Stadt mit Infobriefen angeschrieben und unsere Broschüren verschickt. Wir erwarten, dass es einen Rücklauf geben wird und junge Menschen so auf uns und unsere Website stossen werden. Andererseits hoffen wir, dass sich unser Angebot herumspricht, Jugendliche einander davon erzählen und sich gegenseitig dazu ermutigen, sich bei uns zu melden.
Sie unterliegen der Schweigepflicht und bieten anonyme Beratung an. Schränkt dies Ihren Handlungsspielraum ein?
Ich denke, es ist eine grosse Chance für die Kinder und Jugendlichen, dass sie sich öffnen können, ohne zu befürchten, dass sofort etwas unternommen wird. So haben sie genug Zeit, um sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Wir können zusammen schauen, was sie brauchen. Das ist ein Prozess, bei dem viel mehr gewonnen ist, als wenn wir über ihren Kopf hinweg handeln würden. Das dürfen wir auch gar nicht.
Junge Menschen können sich bei Ihnen also unverbindlich melden. Wie lange betreuen Sie Kinder und Jugendliche in der Regel?
Das ist sehr unterschiedlich. Wir haben ganz viele Jugendliche, die über längere Zeit immer wieder kommen. Aber auch häufig einmalige Beratungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern, die danach schon alle nötigen Informationen haben.
Was würden Sie einem jungen, von Gewalt betroffenem Menschen als ersten Schritt raten, um Hilfe zu bekommen? Und was können Angehörige bei einem Verdacht auf Gewalt an Kindern oder Jugendlichen tun?
Wir raten dazu, dass man sich einfach einmal per WhatsApp, E-Mail oder Telefon bei uns meldet. Das ist unverbindlich. Vielleicht sind Sofortmassnahmen nötig oder aber die Kinder und Jugendlichen können mit oder ohne Vertrauensperson bei uns zu einem Gespräch vorbeikommen. Wir sind froh, wenn man sich frühzeitig meldet. Es muss nicht extrem schlimm sein. Kinder und Jugendliche dürfen sich bereits melden, wenn es ihnen schlecht geht. Gewalt ist nicht immer sofort erkennbar. Auch Angehörige, weitere Bezugspersonen oder Fachpersonen können sich schon bei einem Verdacht einfach bei uns melden und wir schauen dann zusammen, wie es weitergehen könnte.