«Wie menschenwürdig ist diese Einteilung?»
28.07.2020 BaselbietDer Vorschlag der Baselbieter Regierung für die Teilrevision des Sozialhilfegesetzes hat gemischte Reaktionen ausgelöst. Die Wittinsburger Gemeindepräsidentin Caroline Zürcher (SP) ist Vizepräsidentin des Verbands für Sozialhilfe Baselland (VSO). Sie verlangt, dass die Vorlage gründlich ...
Der Vorschlag der Baselbieter Regierung für die Teilrevision des Sozialhilfegesetzes hat gemischte Reaktionen ausgelöst. Die Wittinsburger Gemeindepräsidentin Caroline Zürcher (SP) ist Vizepräsidentin des Verbands für Sozialhilfe Baselland (VSO). Sie verlangt, dass die Vorlage gründlich überarbeitet wird.
David Thommen
Frau Zürcher, die Vernehmlassung für die Teilrevision des kantonalen Sozialhilfegesetzes ist abgelaufen. Wie bewerten Sie die Reaktionen?
Caroline Zürcher: Es hat erwartungsgemäss viel Kritik gegeben. Vor allem am Modell mit den fünf Grundstufen, in welche die Sozialhilfebezüger laut dem Vorschlag neu eingeteilt werden sollen.
In jeder Stufe gibt es – je nach Bezugsdauer oder dem gezeigten Willen zur Integration – einen anderen Frankenbetrag. Ist das nicht gerechter als das heutige System, bei dem alle gleich viel bekommen?
Die Umsetzung dieses Vorschlags wäre sehr komplex und mit einem enormen administrativen Aufwand für die Sozialdienste der Gemeinden und die Sozialhilfebehörden verbunden, die das Gesetz selber vollziehen. Die ganze Frage rund um die korrekte Einteilung in eine der Stufen würde so viele Kräfte binden, dass dies zulasten der Betreuung und Förderung der Sozialhilfebezüger gehen würde. Das wäre kontraproduktiv. Das Ziel der Teilrevision war ursprünglich ja die bessere Förderung der Betroffenen – und nicht mehr Administration.
Also ist der Vorschlag einfach zu kompliziert?
Ich bin Juristin und habe das Gesetz genau studiert. Anerkennend muss ich sagen, dass es eine technische Meisterleistung ist. Aber es ist nicht umsetzbar. Laienbehörden wären mit der Umsetzung total überfordert und die Klientinnen und Klienten könnten es schon gar nicht mehr verstehen. Dabei sollte ein Gesetz so geschrieben sein, dass es von allen begriffen wird.
Wäre die Einteilung in eine der fünf Gruppen tatsächlich so aufwendig?
Ja, gerade in grossen Gemeinden mit vielen Fällen würde das viele Ressourcen binden. Beispiel: Bei einer fünfköpfigen Familie müssten neu alle Mitglieder einzeln erfasst, beurteilt und eingestuft werden. Heute passiert das pro Familie nur ein Mal. Für dieses neue Prinzip wäre schon alleine das Computerprogramm, das von den meisten Gemeinden verwendet wird, nur noch bedingt geeignet. Hier müsste die Software umprogrammiert werden.Alleine das schon würde für die Gemeinden sehr teuer.
Betrifft Ihre Kritik also vor allem das Mehr an Bürokratie? Oder geht es darum, dass Sie die Einteilung der Bezüger in unterschiedliche Stufen grundsätzlich ablehnen?
Beides. Die Sozialdienste begegnen den Klienten heute auf Augenhöhe und probieren, mit ihnen nach deren Möglichkeiten bestmögliche Lösungen zu suchen. Diese Augenhöhe ist nicht mehr gegeben, wenn den Sozialdiensten die Aufgabe übertragen wird, die Klienten ständig neu zu klassifizieren. Es würde sich letztlich viel zu viel um die Einteilungsfrage drehen. Damit ist den Betroffenen nicht geholfen.
Die Teilrevision wurde durch die berühmt gewordene «Motion Riebli» ausgelöst. SVP-Landrat Peter Riebli hatte ein Bonus-Malus-Modell in der Sozialhilfe verlangt. Ist es nicht ein verständlicher Ansatz, dass nicht kooperative Sozialhilfebezüger sanktioniert werden?
Ein schwieriges Thema. Es ist zu befürchten, dass die Kriterien von Gemeinde zu Gemeinde ganz unterschiedlich angewendet würden. Eine unterschiedliche Praxis könnte eine Art Sozialhilfetourismus verursachen. Es könnte eine Abwanderung aus Gemeinden stattfinden, die das Gesetz restriktiv anwenden. Und eine Zuwanderung in diejenigen Gemeinden, die weniger streng klassifizieren. Über allem steht aber die Frage: Wie menschenwürdig ist diese Einteilung überhaupt? Entspricht das dem Gleichheitsgebot in unserer Bundesverfassung? Ich habe da meine grossen Zweifel. Zudem können die Einstufungen von den Betroffenen angefochten werden. Es dürfte also mehr Beschwerden geben.
Ist es tatsächlich richtig, alle Sozialhilfebezüger gleich zu behandeln, auch wenn sich nicht alle gleichermassen anstrengen?
Sanktionsmöglichkeiten gibt es jetzt schon. Wer sich gar nicht bemüht, dem kann der Grundbedarf laut jetzigem Gesetz bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Von dieser Möglichkeit wird in Einzelfällen auch Gebrauch gemacht. Aber es darf hier kein falsches Bild entstehen: Die meisten Menschen möchten eine Arbeit haben und hätten gerne bessere finanzielle Voraussetzungen. Es sind nur ganz, ganz wenige, die eine «Null-Bock-Mentalität» an den Tag legen.
Die Idee ist es, dass die Bezüger zu Beginn weniger Geld bekommen, bis sie alle nötigen Unterlagen haben. Offenbar sind Betroffene häufig nicht motiviert, die Papiere, die über die tatsächliche Bedürftigkeit Auskunft geben, vorzulegen.
Für die Sozialhilfebehörden würde das vor allem bedeuten, dass die anfänglich tiefe Einstufung nach zwei Monaten bereits wieder überprüft werden müsste. Das ist praxisfern. Gerade in einer kleinen Gemeinde können die Sozialhilfebehörden gar nicht so schnell arbeiten, da sie nicht so häufig tagen. Die Überprüfungsfristen sind im Vorschlag generell viel zu kurz angesetzt.
Vorgeschlagen wird auch, dass Sozialhilfebezüger, welche die Arbeitssuche motiviert angehen, höhere Beträge bekommen. Nach zwei Jahren droht ihnen dann eine leichte Kürzung. Ist das nicht ein guter Anreiz, um möglichst rasch wieder einen Job zu finden?
Was ist die Definition von Anreiz? Häufig ist es einfach nicht realistisch, dass die Betroffenen rasch wieder eine Arbeit finden. Die Motivation spielt in vielen Fällen eine untergeordnete Rolle. Manche Leute sind aufgrund ihrer Voraussetzungen einfach nicht in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar. Andere wie Alleinerziehende – immerhin 30 Prozent aller Unterstützten – können zum Teil keine Arbeit annehmen, weil sie niemanden haben, der sich um das Kind oder die Kinder kümmert. Gerade im Oberbaselbiet sind die Grundvoraussetzungen dafür häufig nicht gegeben: Es gibt vielerorts weder Kitas noch Mittagstische. Was soll der alleinerziehende Elternteil tun? Er kann die Kinder ja nicht sich selber überlassen.
Finanzdirektor Lauber sagt, dass etwas passieren muss, da die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den vergangenen Jahren auffällig gestiegen ist und die durchschnittliche Bezugsdauer immer länger wird. Ist das so falsch?
Nein, Laubers Analyse stimmt. Soeben hat die Regierung nun aber auch eine Armutsstrategie vorgelegt. Beide Thematiken sind so eng miteinander verwandt, dass wir sie nicht isoliert diskutieren dürfen. Letztlich geht es darum, Armut ganzheitlicher zu verhindern. Mit der Armutsstrategie soll beispielsweise schon die Frühintegration von Kindern – auch in sprachlicher Hinsicht – verbessert werden. Aber auch bei den betroffenen Erwachsenen ist ein grosser Handlungsbedarf erkannt worden. So sollen Arbeitslose schon ab dem ersten Tag besser betreut und unterstützt werden. Wir müssen verhindern, dass aus der Arbeitslosigkeit eine Sozialhilfeabhängigkeit entsteht. Ich sehe daher die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und das Kiga in der Pflicht. Es geht häufig zu viel wertvolle Zeit verloren. Je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird die Integration. Für die Sozialhilfebehörden wird die Aufgabe dadurch häufig fast unlösbar.
Wie viel Zeit geht verloren?
Arbeitslosengeld gibt es während zwei Jahren. Das heisst nicht, dass die Betroffenen dann sogleich bei der Sozialhilfebehörde anklopfen. Zuerst muss das ganze Vermögen aufgebraucht sein – das Auto muss verkauft werden oder auch eine Eigentumswohnung oder ein Haus. Anspruch auf Sozialhilfe besteht erst dann, wenn man als Einzelperson nur noch über weniger als 2200 Franken verfügt. Bis das Vermögen so weit geschrumpft ist, kann es Jahre dauern. Wer so lange weg vom Arbeitsmarkt ist, kann logischerweise kaum noch vermittelt werden.
Sie kritisieren RAV und Kiga, die angeblich zu wenig unternehmen, um Betroffene zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Umgekehrt kann man Laubers Vorschlag auch als Kritik an den Soziallhilfebehörden der Gemeinden verstehen, die es zu wenig gut schaffen, Sozialhilfebezüger zu integrieren.
Bei grossen Gemeinden, die professionell organisiert sind, würde ich diese Kritik nicht gelten lassen. Ich bezweifle, dass ein kantonales Assessmentcenter effizienter ist als ein professioneller Sozialdienst. Bei kleinen Gemeinden ist die Kritik aber häufig nicht ganz unberechtigt. Es ist schwierig, wenn wie in meiner Gemeinde Wittinsburg fünf Laienmitglieder der Sozialhilfebehörde solche Fälle betreuen müssen. Alleine schon in rechtlicher Hinsicht sind die Fälle teilweise hoch komplex, da häufig verschiedenste Stellen wie RAV, IV oder sonstige Versicherungen involviert sind. Wer zahlt wofür? Ich bin zwar Juristin, aber nicht Sozialversicherungsexpertin. Hier braucht es Sozialdienste mit viel Wissen und Erfahrung. In einer kleinen Gemeinde mit wenigen Fällen kann man das kaum meistern.
Wie viele Fälle hat Wittinsburg?
Wir sind im Moment bei null. Wir können zum Glück auf die Dienste eines pensionierten Sozialarbeiters zurückgreifen, der Leute, die an der Schwelle zur Sozialhilfe sind, beraten kann. Kleine Gemeinden müssten sich meiner Meinung nach zusammenschliessen, um ihre wenigen Fälle professioneller betreuen lassen zu können. Wir werden im Verein «Region Oberbaselbiet» analysieren, wo die Gemeinden künftig besser zusammenarbeiten könnten. Ich persönlich würde mir einen Sozialhilfeverbund wünschen.
Zurück zu Anton Laubers Teilrevision des Sozialhilfegesetzes. Kritik gibt es von vielen Seiten. Wird die Reform in dieser Form scheitern?
Davon gehe ich aus.
Gewonnen wäre damit nichts. Handlungsbedarf besteht ja unbestritten.
Wie gesagt, die Armutsstrategie muss in die ganze Diskussion miteinbezogen werden. Armut muss schon zu einem frühen Zeitpunkt verhindert werden. Und man darf die Augen nicht davor verschliessen, dass man für die Integration und Förderung künftig mehr Geld in die Hand nehmen muss. Das fängt bei einem besseren Angebot für die Kinderbetreuung oder für Sprachkurse an.
Was empfehlen Sie Regierungsrat Lauber? Soll er die Teilrevision gleich ganz bleiben lassen?
Nein. Er soll die Reaktionen genau analysieren und das Gespräch mit dem VSO und Fachpersonen suchen. Es ist ja nicht alles schlecht. Den Ansatz mit dem Assessmentcenter beispielsweise finde ich im Grundsatz gut. Es soll einfach nicht von allen 86 Gemeinden genutzt und bezahlt werden müssen, sondern nur von solchen, die selber nicht schon einen professionellen Sozialdienst haben.
Aber die fünf Einteilungsstufen würden Sie fallen lassen?
Ja. Anton Lauber soll dem Landrat beantragen, die «Motion Riebli» abzuschreiben und anhand der Armutsstrategie eine bessere Lösung suchen. Das Modell mit den fünf Stufen ist systemfremd in der Schweiz, kein anderer Kanton kennt es. Baselland soll sich an Ideen aus anderen Kantonen orientieren. Sollte die vorliegende Revision unverändert im Landrat durchkommen, käme es wohl zur Volksabstimmung. Ich hoffe, wir können uns eine emotionale Debatte um die Sozialhilfe ersparen.